Denn dieses Mal geht es nicht nur darum,
den Präsidenten zu wechseln,
es werden die Menschen sein,
die ein ganz anderes Chile
aufbauen werden.
(Inti Illimani 1970)
Chile
Eine wirkliche Zeitenwende
»Den Wechsel als Zeitenwende zu beschreiben, scheint beinahe untertrieben«, schrieb Klaus Ehringfeld in der »Frankfurter Rundschau« am 11. März. Karin Ceballos Betancur formulierte in der »Zeit« vom 10. März: »Dass er mit mehr Stimmen als je ein Kandidat zuvor zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, darf man sich ungefähr so vorstellen, als wäre 1974 Rudi Dutschke statt Helmut Schmidt Bundeskanzler geworden.« Diese Aussagen machen deutlich: Es muss schon etwas Außergewöhnliches sein, was sich da im Schatten des Putinschen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Lateinamerika ereignete.
Am 11. März wurde der ehemalige Studentenführer, der 36-jährige Gabriel Boric als neuer Präsident Chiles vereidigt. Er setzte sich in einer Stichwahl im Dezember letzten Jahres an der Spitze eines Bündnisses aller Kräfte der politischen Linken klar gegen den noch nach dem ersten Wahlgang führenden Rechtspopulisten José Antonio Kast durch. Sein Kabinett ist nicht nur das jüngste der chilenischen Geschichte, es ist auch das weiblichste: 14 der 24 Kabinettsposten werden von Frauen besetzt. Dieses Kabinett ohne Regierungserfahrung hat sich nicht weniger als den vollständigen Umbau des chilenischen Staates in einen modernen Wohlfahrtsstaat vorgenommen. Und die Erwartungen der großen Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere der jungen Menschen, die ihn in den Regierungspalast gewählt haben, ist riesig. Chile soll »von der Ikone des Neoliberalismus zu einem Land der wirtschaftlichen und sozialen Inklusion umgebaut werden, einem Land, das grün und gleichberechtigt in allen seinen Dimensionen denkt. Von Ureinwohner:innen bis hin zu den Frauen. Geführt werden soll das Land von einem Kollektiv, als das Boric seine Regierung versteht, und nicht von ihm als Präsident mit den traditionell weitreichenden Vollmachten«, so Ehringfeld in der »Frankfurter Rundschau«.
Von einem ehemals in der Jugendpastoral engagierten Freund der chilenischen SSCC-Provinz erfragten wir eine Einschätzung des Ergebnisses dieser Präsidentschaftswahl. Wir erhielten einen Text, der die epochale Hoffnung großer Teile der chilenischen Bevölkerung zum Ausdruck bringt und den wir nachfolgend in Auszügen wiedergeben.
Beitrag
aus dem Apostels 1/22
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Einmal mehr die Macht beim Volk?
Ein Beitrag von César González Cepeda
Am 11. März 2022 hat in Santiago de Chile Präsident Gabriel Boric Font sein Amt angetreten. (…) Um zu begreifen, was das bedeutet (…), beginne ich diese Geschichte am 4. September 1970, als Salvador Allende zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Er kam ins Amt mit Unterstützung der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, dem MAPU und anderer Parteien, die zusammen die »Unidad Popular« (die Volkseinheit) begründet hatten. Die Hymne von Inti Illimani zeigt das Aufkommen eines neuen Geistes, des neuen Menschen im Sozialismus der 1970er Jahre, der erklärt: Wir werden alle unsere Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. (…) Das Ende dieses Abschnitts der Geschichte ist bekannt: Am 11. September 1973 wurde die übliche Machtordnung wiederhergestellt (durch den Putsch der Armee unter General Pinochet mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA, d. Red). Das Streben nach Gerechtigkeit und Würde der Volksmassen wurde an den Rand des Verbotenen gedrängt.
Am 18. Oktober 2019 zeigte sich dieser Wunsch nach Gerechtigkeit erneut: Diesmal auf der Straße, nicht an der Wahlurne, (…) und auch nicht mit einem Regierungsprogramm. Die Straßen waren voll mit Millionen von Menschen, die die jahrzehntelangen Missstände satthatten (die massiven sozialen Proteste begannen mit Demonstrationen gegen die Erhöhung von U-Bahn-Tickets, d. Red). Das Verkehrssystem der Hauptstadt brach zusammen, die Märkte und die demokratischen Institutionen brachen zusammen, und Präsident Sebastián Piñera erklärte dem eigenen Volk den Krieg, in dem er einen mächtigen und unerbittlichen Feind sah (…). Dutzende Tote und Hunderte von Menschen mit verletzten Augen durch das Militär und die Polizei markierten die Rückkehr zu den schlimmsten Zeiten der Diktatur mit Tausenden von Klagen über Menschenrechtsverletzungen (…).
Die politische Klasse, die in die Enge getrieben wurde und seit der Rückkehr zur Demokratie in höchstem Maße in Verruf geraten ist, hat mit dem Beginn eines Verfassungsprozesses einen Ausweg aus der tiefen sozialen Krise gefunden (…). Bei der Volksabstimmung über ein »ja« oder »nein« zur Ausarbeitung einer neuen demokratische Verfassung im Jahr 2020 erhielt die Option »Ich stimme zu« 78,27 Prozent der Stimmen.
Wenn Boric am 11. März die Präsidentschaft übernimmt, wird er drei der letzten Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres wegen Steuerbetrugs im Gefängnis vorfinden. Drei Generaldirektoren von Carabineros de Chile (Chefs der uniformierten Polizei) und einen Generaldirektor der chilenischen Zivilpolizei wurden wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt. Ein Dutzend Parlamentarier aus dem gesamten politischen Spektrum und fünf der führenden chilenischen Unternehmer wurden wegen Bestechung angeklagt und verurteilt. Und die oberste Leitung der katholischen Kirche in Chile wurde wegen Vertuschung von Fällen wiederholten sexuellen Missbrauchs angeklagt.
Diese Kultur der Korruption hat (…) dazu geführt hat, dass Chile laut dem Gini-Index der Weltbank auf Platz sieben der ungleichsten Länder der Welt steht. Diese endemische Korruption der Eliten war der Hintergrund, vor dem Gabriel Boric zur Hoffnung für ein besseres Land wurde, und dies wird die größte Herausforderung für die neue Regierung sein, die das aufgewachte Chile repräsentieren soll.
Ich stimme für die Würde
Im Januar 2021 wurde die Koalition Apruebo Dignidad gebildet, die erstmals nach Jahrzehnten einen linken Kandidaten mit einer ernsthaften Chance auf die Präsidentschaft präsentierte. Die monatelangen Umfragen sahen zunächst Daniel Jadue Jadue mit 20 Prozent der Stimmen an erster Stelle. Doch bei den Vorwahlen siegte Gabriel Boric mit einem komfortablen Sieg. Schnell führte dies zur Einigung der politischen Rechten auf einen extremen Rechtspopulisten, damit um jeden Preis der Einzug eines Kommunisten in La Moneda, den Präsidentenpalast, verhindert werden sollte. (…)
So entwickelte sich (…) eine der am stärksten umkämpften Wahlen der letzten 30 Jahre. Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen und die Parlamentswahlen haben (…) zum ersten Mal in der Demokratie der Rechten eine Mehrheit im Nationalkongress beschert und der Kandidat der rechtsextremen Republikanischen Partei, José Kast, errang zum ersten Mal die meisten Stimmen, sodass er neben Gabriel Boric in die Stichwahl kam. Dieses widersprüchliche Szenario mit dem jüngsten Volksaufstand, der Verabschiedung eines verfassungsgebenden Konvents, der Wahl der Gouverneure und dem Gefühl der Ungerechtigkeit angesichts der wachsenden Kultur des Missbrauchs und der Ungleichheit hat die Alarmglocken für die zweite Runde läuten lassen. Denn: Nach der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 wurde bei allen Präsidentschaftswahlen, die eine Stichwahl erforderten, derjenige zum Präsidenten gewählt, der im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatte.
Die einzige Möglichkeit für den Sieg von Boric und die Wiederherstellung der Aufbruchstimmung war eine überwältigende Zunahme seiner Wählerschaft. Und so war es auch: Eine Million Jungwähler und Menschen, die noch nie zuvor an einer Wahl teilgenommen hatten, nahmen an der zweiten Runde teil und machten Gabriel Boric zum gewählten Präsidenten mit der höchsten Stimmenzahl in der Geschichte Chiles, in der Wahl mit der höchsten Bürgerbeteiligung überhaupt.
So wurden die wagnerianischen Märsche durch die Lieder der Volksmacht oder des Rechts, in Frieden zu leben, und durch die neuen Rhythmen von Rap, Trap und Regetón für ein ganz anderes Chile ersetzt (…).