Die katholische Kirche zu Krieg und Frieden

Zehn Thesen

1. »Ecclesia semper reformanda«: Die katholische Kirche mit ihrer 2000-jährigen Geschichte ist eine der ältesten Institutionen der Menschheit. Für viele verkörpert sie Kontinuität und Treue zur Tradition des christlichen Glaubens; andere sehen in ihr ein feudalistisch-klerikales Herrschaftssystem. In Wirklichkeit ist die Kirche weitaus komplexer zu begreifen. Mit Blick auf die Geschichte zeigt sich ein spannungsreiches Geflecht von Kräften der Beharrung und des Wandels, die beständig miteinander ringen; insbesondere auch bezogen auf ihr Verhältnis zu Gewalt, Krieg und Frieden. Kirche war Kriegstreiber wie Friedensmacht!


2. »Schwerter zu Pflugscharen«: Das Gründungsdokument der Kirche ist die Bibel. In ihrem Ersten Testament, gegründet in Schöpfungsgeschichte und Exodus-Erzählung, aufgespannt in Gewaltgeschichten und prophetischen Friedensvisionen, steht die Befreiungsgeschichte Israels. Kern dieser Erzählung ist die Tora, ein Gesellschaftsentwurf des antiken Judäa, mit Autonomie und Egalität als Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen sowie der ganzen Rechtsordnung. Im Zweiten Testament steht Jesus als Prophet der Gewaltfreiheit, als Heiler, als Messias von Gottes Gerechtigkeit im Zentrum: »Selig sind die, die für den Frieden arbeiten, denn sie werden Töchter und Söhne Gottes heißen.«


3. Jesusbewegung im Imperium Romanum: Als Konsequenz seines Reich-Gottes-Zeugnisses im Namen des befreienden Gottes Jahwe wurde Jesus von den führenden religiösen Autoritäten des jüdischen Volkes und den in Palästina Herrschenden des Römischen Reiches als Rebell hingerichtet. Seine Jüngerinnen und Jünger bekannten in ihrem Osterglauben, dass Gott auf der Seite des vom Imperium Gekreuzigten und Verworfenen steht. Dieser Osterglaube an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus war Ausdruck ihrer Überzeugung, durch die Kreuzigung Jesu sei dessen gewaltfreier Einsatz für ein Leben in Fülle aller im Sinne des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit nicht verloren, sondern bleibend sinnvoll und gültig. Für die sich ausbreitende Jesusbewegung, für die junge Kirche als Minderheitsbewegung im Römischen Reich ist die Orientierung an Gewaltfreiheit grundlegend: Verweigerung des Militärdienstes, Nein zum Militärkult, Tötungsverbot. Kirchenvater ­Clemens von Alexandrien schreibt 210 über die Christ:innen: »Wir sind erzogen für den Frieden und nicht für den Krieg.« Für die frühe Christenheit gehört die Gewaltfreiheit in die Mitte des »Evangeliums des Friedens« (Eph 6,15). Kirche als Nachfolgegemeinschaft ist dadurch Kirche, dass sie eine Kirche des Friedens in der Hoffnung auf die Verheißung eines messianischen Friedensreiches ist.


4. Gewaltfreie militia Christi und militia Caesaris: Die konstantinische Epoche der Kirche (313 bis 1870) startete mit dem römischen Kaiser Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Das prophetisch-messianische junge Christentum wird zur staatstragenden Reichskirche und befördert ein imperial-kolonisierendes und mitherrschendes Christentum. Kirchenvater Augustinus liefert für diesen Wandel zur gesellschaftsprägenden und staatstragenden Institution die passende Legitimierung: Soldaten sündigen nicht, wenn sie in Ausübung ihres Amtes töten, da sie in legitimer Weise handeln. Mit seiner Lehre des gerechten Krieges, der für die Kirche in der konstantinischen Epoche prägend bleibt, suchte Augustinus die Anschlussfähigkeit des Christentums und der jungen Kirche zur neuen staatstragenden Rolle der Kirche zu formulieren; gleichzeitig auch Gewalt und Krieg ethisch und juristisch einzuhegen: Krieg führen können nur legitime Autoritäten. Der Krieg muss in rechter Absicht geschehen, erlaubt ist er nur als letztes Mittel. Die Mittel müssen verhältnismäßig sein, und es muss eine begründete Hoffnung auf Erfolg bestehen.
Kirche wird staatstragend und übt, oft im Eigeninteresse, weltliche Macht aus. Das Bündnis von Thron und Altar steht für die nächsten rund 1500 Jahre. Zwei besonders herausragende Ereignisse dieses machtvoll feudalen und herrschaftlichen Agierens der Kirche sollen hier genannt sein:

• »Deus lo vult!« – »Gott will es so!« – Mit diesem Leitspruch folgten Tausende Ritter und Soldaten den päpstlichen Aufrufen im 12. und 13. Jahrhundert in »Heilige Kriege«, um Jerusalem von der islamischen Herrschaft zu befreien. Rund zwei Millionen Menschenleben haben diese Kreuzzüge gefordert.

•Papst Alexander VI. teilt 1494 im Vertrag von Tordesvillas die »Neue Welt« zwischen Spanien und Portugal auf und gab damit den Startschuss zur kolonialen Ausbeutung Amerikas, Afrikas, Asiens und Australiens. Die gewaltsamen Missionen und Unterwerfungen von Millionen Menschen folgten!


5. Nach 1789: Mit der Französischen Revolution und anderen bürgerlichen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert wird die römisch-katholische Kirche von den Pfründen der feudalen Zeit befreit, die demokratisch-bürgerliche Moderne zwingt die Kirche zum Rückzug und in den öffentlichen Machtverlust. Nach Auflösung des vatikanischen Kirchenstaates kann Kirche sich neu als gesellschaftlicher Akteur und als Global Player profilieren.

Nach 1870 wird der Dienst am Weltfrieden zum zentralen Anliegen der vatikanischen Außenpolitik. In den beiden Weltkriegen kamen humanitäre Aktivitäten hinzu. Die Kirche orientiert sich weiter an der Lehre vom gerechten Krieg, legt sie aber eindeutig militärkritischer aus. Papst Johannes XXIII. schreibt: »Der imperiale Staub, der sich seit Konstantin auf dem Stuhl des heiligen Petri abgelagert hat, muss weggewischt werden.«

Seit dem II. Vatikanischen Konzil setzt sich die vatikanische Diplomatie für Religionsfreiheit und Menschenrechte in der ganzen Welt ein. Johannes Paul II. erweiterte das Spektrum durch die Zusammenarbeit der Weltreligionen um des Weltfriedens willen.


6. 1914–1945: Die beiden Weltkriege bedeuten für die deutsche katholische Kirche mehrheitlich eine nationalistische Einschränkung ihrer universellen Friedensbotschaft. Deutsche katholische Soldaten mit Koppelschlössern »Gott mit uns« ziehen gegen ebenso katholische Franzosen ins Feld. Gleichzeitig stehen in dieser Zeit viele Kirchenleute auf und leisten Widerstand: Der Dominikaner Franziskus M. Stratmann erklärte Frieden zur zentralen katholischen Aufgabe und beteiligte sich nach 1918 beim Aufbau des pazifistischen Friedensbundes deutscher Katholiken. Der Freiburger Diözesanpriester Max Josef Metzger argumentiert jenseits der Lehre vom gerechten Krieg mit der Bergpredigt gegen den Krieg und ist Mitinitiator des pazifistischen Internationalen Versöhnungsbundes. Der Jesuit Alfred Delp engagiert sich im Kreisauer Kreis und unterstützt die Umsturzpläne gegen Hitler. Der französische Friedensbischof Pierre-Marie Théas initiiert 1948 Pax Chris­ti als Versöhnungs- und Gebetsbewegung zwischen Deutschen und Franzosen. Pax Christi wird vom Vatikan und den Bischöfen als die internationale katholische Friedensbewegung anerkannt.


7. II. Vatikanum: Mit den Enzykliken »Pacem in terris« (Papst Johannes XXIII.) und »Populorum progressio« (Papst Paul VI.) trat die Kirche verstärkt auf die internationale Bühne der Völkergemeinschaft und formulierte aktiv die christliche Friedensbotschaft der Versöhnung und Gewaltfreiheit im globalen Kontext und geißelte nicht nur Kriege, sondern auch die Aufrüstung: »Der Rüstungswettlauf ist eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit, er schädigt unerträglich die Armen.«


8. Von »Gerechtigkeit schafft Frieden« (1983) zu »Gerechter Friede« (2000): Inmitten der Ost-West-Blockkonfrontation schreiben die deutschen Bischöfe ihre Friedenslehre fort. Sie entwickeln im Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« ein breites Verständnis von Frieden, das die Abhängigkeiten des »Globalen Südens« einbezieht und die Frage einer weltweiten Gerechtigkeit für die Friedensordnung in den Mittelpunkt stellt. Sie wiederholen zwar auch die Kriterien des gerechten Krieges, betonen jedoch vielmehr das Primat der Politik und die unmissverständliche Ein- und Unterordnung des Militärischen, das als notwendiges, aber nichtsdestoweniger als Übel betrachtet wird. In Reaktion auf den weltpolitischen Umbruch von 1989/90 legen die Bischöfe im Jahr 2000 »Gerechter Friede« vor und überschreiten damit bewusst die Lehre vom gerechten Krieg. Neuere Konflikte wie die Golfkriege, der Genozid in Ruanda 1994 und die Balkan-Kriege werfen neue friedens­ethische Fragen auf. Der Völkermord in Ruanda und das Massaker von Srebrenica (Bosnien) 1995 rücken die Frage ins Zentrum, wie die von den UN bekräftigte »responsability to protect« (Schutzverantwortung) gewährleistet werden kann. Ist es moralisch verantwortbar, Menschen, die von Völkermord bedroht sind, nicht wirksam zu schützen.

Im Rahmen des Leitbildes vom gerechten Frieden verliert die Lehre vom gerechten Krieg an Bedeutung, auch wenn die moralischen Prüfkriterien weiter hilfreich sein können. Der Einsatz militärischer Mittel als rechtserhaltende Gewalt wird von den deutschen Bischöfen allein als äußerstes Mittel (Ultima Ratio) verstanden. Mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bestätigen die deutschen Bischöfe das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und legitimieren Waffenlieferungen zur Verteidigung als Ausdruck dieser Ultima Ratio.


9. Pax Christi: Die Friedensbewegung der katholischen Kirche hat sich in ihrer 75-jährigen Geschichte aus einer binnenkatholischen Gebets- und Versöhnungsbewegung zu einer pazifistischen politischen Friedensbewegung weiterentwickelt. Zwei Strömungen, die des unbedingten Pazifismus, für den die Anwendung von vornherein ausscheidet, als auch die Strömung eines politischen Verantwortungspazifismus prägen diese Bewegung. Auch letztere vertritt den eindeutigen Vorrang der Gewaltfreiheit, geht jedoch davon aus, dass die Gewaltfreiheit des eigenen Handelns nicht das einzige ethisch bindende Prinzip ist. Deswegen schließt sie die Anwendung von Gewalt in bestimmten Situationen akuter Not nicht aus. Beide Gruppen gehen – wenn auch in unterschiedlichen Graden – restriktiv mit der Möglichkeit militärischer Gewalt um: Wer Frieden will, muss Frieden vorbereiten!


10. Papst Franziskus – Prophet der Gewaltfreiheit: Gewaltfreies Handeln ist für ihn mächtiger als Gewalt. Gewaltfreiheit wird von ihm ausdrücklich gerade auch für die Politik, für internationale Konflikte und die globale Zusammenarbeit gefordert. Aus der Opferperspektive reklamiert er: »Treten wir in Kontakt mit den Wunden, berühren wir das Fleisch der Verletzten. (…) Achten wir auf die Wahrheit dieser Gewaltopfer (…). Dann können wir den Abgrund des Bösen im Inners­ten des Krieges sehen. (…) Es sind die zivilen Opfer – darunter Flüchtlinge, Frauen, Kinder –, die die Wahrheit über den Krieg zeigen. Aus diesem Grund ist es notwendig, sich körperlich auf sie zu beziehen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu fühlen.« Für Papst Franziskus gibt es keinen Unterschied zwischen Gewalttaten, die im Sinne der Selbstverteidigung erfolgen, und der Gewalt, die bekämpft werden soll, auch wenn er zum Beispiel das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer akzeptiert. Für Franziskus stellt Gewaltfreiheit eine befreiende Spiritualität dar. Es ist eine innere Haltung, die auch in den Konfliktgegnern Menschen erkennt: »Der andere darf niemals auf das reduziert werden, was er vielleicht gesagt oder getan hat, sondern muss im Hinblick auf die Verheißung, die er in sich trägt, geachtet werden – Verheißung, die immer einen Hoffnungsschimmer zurücklässt.« Papst Franziskus positioniert sich eindeutig gegen jede Art von Krieg. Auch im Krieg in der Ukraine fordert er immer wieder sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen in seinem unbedingten jesuanischen Pazifismus. Der Papst verurteilt den Waffenhandel und die Rüstungsindustrie, die an Kriegen verdienen. Gewaltfreiheit ist für den Papst mehr als nur eine Beendigung von Krieg. Es ist eine grundlegende Haltung, ein Lebensstil, eine befreiende Spiritualität. Der pax christi, der Friede, der von Christus kommt, ist ein Frieden in globaler Gerechtigkeit, indem die Kirche der Gewaltfreiheit ein heilendes Ferment sein will.