Basis der Fotomontage: © jr korpa – unsplash.com
Interview mit Camille Sapu Malangu SSCC und Jean Djamba
Wieder einmal eskalieren die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Osten der Demokratischen Republik (DR) Kongo, und die Welt nimmt kaum Notiz davon. Insbesondere der Osten der DR Kongo ist seit über zwei Jahrzehnten Schauplatz immer wieder aufflammender Kriege mit Millionen Toten, Vertriebenen und unzähligen vergewaltigten Frauen. Daran beteiligt sind ca. 120 verschiedene Milizen, Soldaten der Nachbarländer Ruanda und Uganda, die kongolesische Armee und das alles unter den Augen der derzeit größten UN-Blauhelmmission Monusco. Wir fragten den Provinzial von Afrika, Pater Camille Sapu Malangu SSCC (Kinshasa), und den Vorsitzenden der pax christi Kommission »Solidarität mit Zentralafrika«, Jean Djamba (Harxheim), nach ihrer Einschätzung der Hintergründe für diesen nicht enden wollenden Krieg.
Wie ist die Situation für die Bevölkerung in Goma und im Nordkivu Anfang August 2022?
Camille Sapu SSCC: Die Situation in Goma und im Osten meines Landes ist katastrophal. Seit vielen Jahren leiden die Menschen im Osten unseres Landes unter Gewalt und Krieg, der heute als ausländische Invasion bezeichnet wird.
Jean Djamba: Die Bevölkerung lebt zwischen Hoffen, Bangen und Wut. Hoffen, dass durch den Besuch des US-amerikanischen Außenministers Blinken in der DR Kongo und anschließend in Ruanda eine nachhaltige Lösung erzwungen wird. Trotzdem Bangen, dass das zum wiederholten Mal am Ende nur eine Illusion bleiben wird. Wut auf die westlichen Länder, die seit Jahrzehnten Ruanda in diesem Wahnsinn indirekt unterstützen und demzufolge mit zweierlei Maß messen. Denn: Was Ruanda und Uganda in der DR Kongo tun, ist fast vergleichbar mit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine.
Laut UNHCR mussten bereits wieder mehr als 70.000 Menschen allein in diesem Jahr aus der Region fliehen – zusätzlich zu den bereits mehr als sechs Millionen Flüchtlingen, von denen ca. 5,4 Millionen Menschen Flüchtlinge im eigenen Land sind. Können Sie uns etwas über die Lebenssituation dieser Menschen sagen – und welche Hilfe sie benötigen?
Camille Sapu SSCC: Wir wissen, dass ein Krieg viele Kollateralschäden zur Folge hat, unter anderem die Vertreibung der Bevölkerung. Menschen, die alles verloren haben und nun beispielsweise am Rande der Hauptstadt Kinshasa leben – ohne Arbeit und ohne Ressourcen. Dies führt zu Arbeitslosigkeit, Unterernährung, steigender Kriminalität, mangelnder Schulbildung für Kinder und Jugendliche und einem Klima der Verzweiflung und der Revolte. Um all dies zu beheben, glaube ich, dass die DR Kongo ganz einfach ein echtes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft fordern muss. Ich spreche von »echtem« Eingreifen, da wir ein halbherziges und komplizenhaftes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft seit Jahrzehnten erleben.
Sind Schwestern und Brüder SSCC von der Gewalteskalation betroffen?
Camille Sapu SSCC: Zunächst einmal leben die Brüder und Schwestern unserer Kongregation weit entfernt von den Kriegsgebieten im Osten. Aber wir sind dadurch betroffen, dass einige Brüder und Schwestern Verwandte im Osten des Landes haben und sehr viele Menschen aus dem Ostkongo nach Kinshasa flüchten. Und nicht zuletzt betrifft das Leiden so vieler Menschen alle Kongoles:innen.
Was sind die Gründe für diese erneute Eskalation der Gewalt? Welche Rolle spielen die verschiedenen Rebellengruppen und die kongolesische Armee sowie die Nachbarstaaten Ruanda und Uganda?
Jean Djamba: Aus meiner Sicht gibt es strategisch nur einen Hauptgrund: die Kontrolle der wertvollen Bodenschätze. Das Ziel ist die langfristige Aufrechterhaltung politische Instabilität in der DR Kongo, um weiterhin die Kontrolle über die riesigen Rohstoffvorräte im Osten zu behalten. Rebellengruppen wie M-23, FDLR, CODECO, ADF und wie sie alle heißen sind nur Mittel zum Zweck. Wo Chaos herrscht, profitieren eher kriminelle Gruppen. Unter diesen Gruppen befinden sich bedauerlicherweise auch einige hochrangigen Offiziere der kongolesischen Armee und auch zahlreiche regionale Milizen.
Die erneute Eskalation kam zustande, weil sich die kongolesische Regierung seit einigen Jahren Mühe gibt, die Instabilität im Osten zu bekämpfen. Und das stört die Profiteure bei ihren Geschäften. Damit es keine Ausreden mehr gibt, hat die kongolesische Regierung Ruanda und Uganda eingeladen, sich an diesen Maßnahmen gegen »Rebellengruppen« in Kivu zu beteiligen. Während dieser gemeinsamen Aktion erwischte die kongolesische Armee an einem anderen Ort in Goma, ca. 20 Kilometer von der Grenze entfernt, ruandische Soldaten, die als M-23-Rebellen agierten. Durch ihre Uniform und die Personalausweise konnte man feststellen, dass es sich um Soldaten der ruandischen Armee handelte.
Camille Sapu SSCC: Der Krieg nutzt vor allem den multinationalen Konzernen, den Ländern des Westens und den Nachbarländern Ruanda und Uganda beim Rauben der wertvollen Rohstoffe. Die Bevölkerung versteht nicht, wie es sein kann, dass die Rebellen besser bewaffnet sind als die kongolesische Armee. Die Bevölkerung versteht nicht, warum die UN das Waffenembargo gegen die DR Kongo so lange aufrechterhält, obwohl sich der Staat verteidigen muss. Die Bevölkerung versteht nicht mehr, was die Monusco seit mehr als zwei Jahrzehnten im Land tut, ohne auch nur einen Meter Sicherheit zu gewährleisten. Die Bevölkerung hat die Nase voll, denn es wäre besser, allein zu sterben, als zu glauben, von der Monusco, die nichts tut, geschützt zu werden.
Sollte Monusco abziehen, wie es viele Menschen in Goma gefordert haben? Welche Auswirkungen hätte ein solcher Abzug aus Ihrer Sicht?
Camille Sapu SSCC: Der Abzug von Monusco würde keine großen Auswirkungen auf das Land haben. Warum einen Aufpasser behalten, der Diebe hereinlässt? Es ist an der Zeit, dass die kongolesische Regierung die Verantwortung vollständig übernimmt.
Jean Djamba: Der Abzug könnte vielleicht eine andere Dynamik in Gang setzen und neue Kräfte freisetzen. Die UN-Stabilisierungsmission wird leider nicht mehr ernst genommen, das Vertrauen ist weg. Nach all den Jahren kann man das auch verstehen. Über zehn Millionen Menschen sind fast vor den Augen der Blauhelme getötet worden. Sie bieten, wenn überhaupt, nur einen minimalen Schutz vor Milizen, Vergewaltigungen, Massakern und anderen Gräueltaten.
Ich habe vor ein paar Tagen mit einem bekannten Friedenaktivisten aus Goma gesprochen, der sagt: Die Bevölkerung in der DR Kongo, nicht nur die im Osten, fühlt sich von den westlichen Ländern im Stich gelassen. Aufgrund der Wellen der Solidarität für die Ukraine und für ihren Kampf für territoriale Integrität gegen den russischen Angriff glauben viele sogar an eine Verschwörung zur Balkanisierung der DR Kongo.
Die katholische Kirche in der DR Kongo ist eine einflussreiche Institution. Wie beurteilt die Kirche und die Kongolesische Bischofskonferenz die Situation? Welche Vorschläge zur Lösung der Krise hat die katholische Kirche, und was kann sie selber dazu beitragen?
Camille Sapu SSCC: Die katholische Kirche hat nie aufgehört, laut und deutlich über die Situation im Osten des Landes und die versteckte Agenda der internationalen Gemeinschaft zur Balkanisierung des Landes zu sprechen. Die Kirche predigt über die Einheit des Landes und den nationalen Zusammenhalt. Die Kirche hat keine Armee. Sie hat nur das Evangelium und seinen prophetischen Geist. Sie fordert die Bischofskonferenzen der angreifenden Länder auf, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, damit sie die Rebellengruppen im Kongo nicht weiter unterstützen. Die Kirche macht durch die Bischöfe den kongolesischen Politikern bewusst, dass sie ihre Augen öffnen und sich nicht am Unglück des Landes beteiligen sollen. Die Kirche spricht im Namen der Stimmlosen zur internationalen Gemeinschaft. Die Kirche zeigt, dass unser Land nicht zum Verkauf steht.
Jean Djamba: Die katholische Kirche, vertreten durch Kardinal Fridolin Ambongo, fordert die Beteiligung von Papst Franziskus an der Wiederherstellung des Friedens im Osten der DR Kongo. Genauso fordert der Kardinal die rasche Entwaffnung aller bewaffneten Gruppen. Die katholische Kirche sensibilisiert und fordert die Kongoles:innen auf, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Hassreden gegen ruandastämmige Bevölkerungsgruppen und gegen die Mission der Vereinten Nationen für die Stabilisierung in der DR Kongo (Monusco) zu vermeiden.
Welche Wünsche und Erwartungen haben Sie, hat die katholische Kirche an Regierungen und Zivilgesellschaft in Europa? Was könnten die Brüder und Schwestern SSCC weltweit tun, um einen dauerhaften Frieden in der Region und speziell in der DR Kongo zu befördern?
Camille Sapu SSCC: Ein Volk, das sich im Krieg befindet, hat nur einen Wunsch: Frieden. Wir fordern noch einmal die Länder auf, die vom Krieg in der DR Kongo profitieren, an unsere Toten zu denken: Es sind bereits mehr als zehn Millionen. Wir sagen ihnen, dass ein mit Blut erlangter Reichtum immer mit Blut endet. Wir bitten die Menschen guten Willens und die einflussreichen Menschen dieser Welt, sich für unsere Sache einzusetzen. 20 Jahre Krieg sind zu viel. 20 Jahre Ausbeutung unserer Reichtümer durch Vergewaltigung von Frauen, Tötung von Kindern und Schaffung eines Klimas der Verzweiflung sind zu viel. 20 Jahre Schlafmangel, weil wir nicht wissen, was morgen passieren wird, sind zu viel. Die Zeit ist gekommen, dass die Welt versteht: Unser Krieg ist ein Wirtschaftskrieg. Dass der Krieg in unserem Land mehr Menschenleben gefordert hat als überall sonst auf der Welt. Möge unsere weltweite Ordensgemeinschaft uns mit ihren Gebeten begleiten.
Die Kongregation in Afrika ist offen dafür, alle unsere Brüder und Schwestern, die nach Kinshasa flüchten mussten, psychologisch und spirituell zu begleiten. Wir sind aufgerufen, uns an den verschiedenen Begleitstrukturen zu beteiligen, die hier im Land eingerichtet werden. Wenn es jemanden gibt, der uns dabei finanziell unterstützen kann, um einige bedürftige Familien zu betreuen, würden wir uns sehr darüber freuen.
Interview und Bearbeitung: Thomas Meinhardt
Demokratische Republik Kongo
Fläche: 2,34 Millionen km2 (etwa 6,6-mal so groß wie Deutschland)
Einwohner:innen: ca. 92 Millionen
Hauptstadt: Kinshasa (ca. 13 Millionen Einwohner:innen)
Religion: 50% Katholik:innen, 20% Protestant:innen, 10% Kimbanguist:innen (afrikanische christliche Kirche), 10% Muslim:innen, 10% Anhänger:innen indigener Religionen
Wirtschaft: Die DR Kongo ist einer der rohstoffreichsten Staaten der Erde. Doch ein Jahrhundert beispielloser Ausplünderungen haben das Land zum Armenhaus gemacht: durch die belgischen Kolonialherren (1908–1960), die vom Westen unterstützte Mobuto-Diktatur (1965–1997), den Kabila-Clan (1997–2018) und die zahlreichen militärischen Übergriffe der Nachbarstaaten.