Flüchtende Menschen: abschieben und abschrecken?

Pater Wolfgang Jungheim SSCC engagiert sich seit vielen Jahrzehnten u. a. mit der pax christi-Gruppe Lahnstein intensiv in der Flüchtlings- und Asylarbeit. Er unterstützt zahlreiche Geflüchtete konkret bei der Integration vor Ort und tritt gleichzeitig öffentlich für die Rechte von Geflüchteten ein. Unser Redakteur Thomas Meinhardt befragte Pater Wolfgang zu seiner Einschätzung der vorgesehenen Verschärfungen der Flüchtlingspolitik.

Pater Wolfgang, Länder und Kommunen sehen sich finanziell überfordert mit der aktuellen Anzahl an Flüchtlingen. Die große Mehrheit von ihnen fordert eine starke Begrenzung der sogenannten illegalen Migration und deutlich mehr Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber:innen. Die Bundesinnenminis­terin plädiert für Prüfungen in Lagern an den EU-­Außengrenzen, ob Flüchtlinge in das reguläre Asylverfahren aufgenommen oder gleich abgewiesen werden. Wie beurteilen Sie diese Diskussion?


Nach Angaben der UN sind derzeit ca. 110 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – eine von Jahr zu Jahr steigende Anzahl. Diese Menschen machen sich aus Not, Krieg und politischer Verfolgung auf den Weg, obwohl es viele ihr Leben kostet. Ich fürchte, dass sich der Klimawandel in den nächsten Jahren noch verschärfen wird. Er wird immer mehr zu einer wichtigen Fluchtur­sache, denn die Menschen können in vielen Regionen immer schwerer überleben; schon allein deshalb wird sich die Anzahl der Flüchtenden weiter erhöhen. Die weitaus meisten dieser Menschen sind jedoch nicht auf dem Weg nach Europa, sondern fliehen in die Nachbar­länder oder sind sogenannte Binnenflüchtlinge im eigenen Land. Soll sich in absehbarer Zeit an dieser besonders für die Geflüchteten schlimmen Lebens­situation etwas ändern, müsste insbesondere die Flucht­ursachenbekämpfung endlich ernsthaft angegangen werden. Was hierzu nötig wäre, hat beispielsweise die von der vorherigen Bundesregierung eingesetzte Fachkommission für Fluchtursachenbekämpfung in ihrem Bericht an die Bundesregierung im Mai 2021 detailliert dargelegt. Einer der zentralen Punkte in dem Bericht der Fachkommission ist die Forderung nach einer gerechteren Wirtschafts- und Handelspolitik der Industrie­staaten gegenüber den Ländern des globalen Südens, die nicht auf dem Recht des Stärkeren und der Ausbeutung des Schwächeren beruht. Zudem wird klar benannt, dass wir im sogenannten Westen unsere eigene Wirtschafts- und Lebensweise hin zu Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit verändern müssen, um nicht noch mehr zur Verschärfung von Fluchtursachen beizutragen.

Die Fachkommission mahnte zudem die unbedingte Einhaltung der Menschenrechte auch an den EU-Außengrenzen an. Denn Flüchtlinge sind Boten von dem, was sie erleben. Wenn sie die Erfahrung machen, dass in Europa die Menschenrechte und das Völkerrecht eingehalten werden, stärkt das mehr als vieles andere die weltweite Achtung von Demokratie und Menschenrechten und damit auch die gemeinsame Verantwortung bei der Bewältigung der großen Herausforderungen auf unserem Planeten.

Auch ich nehme wahr, dass nicht wenigen Kommunen große Probleme bei der Unterbringung von Geflüchteten haben. Doch es gibt auch Kommunen, die diese Probleme nicht haben. Zudem existiert der derzeitige Mangel besonders an bezahlbaren Wohnungen nicht, weil es Flüchtlinge gibt, sondern weil die Regierungen von Bund und Ländern sowie die Kommunen diese zentrale Aufgabe der Daseinsvorsorge seit vielen Jahren dem sogenannt »freien Markt« über­lassen haben. Auch in andernen Bereichen der sozialen Grundversorgung wie bei fehlen­den Kita­plät­zen und beim Lehrkräfte­mangel ist der Staat seiner Vorsorgepflicht nur ungenügend nachgekommen.

Selbstverständlich ist es auch eine Herausforder­ung für eine Gesellschaft, in vergleichsweise kurzer Zeit eine ho­he Anzahl Geflüchtete – von denen aktuell der größte Teil vor dem russi­schen Angriffskrieg aus der Ukraine geflohen ist – gut aufzunehmen und zu integrieren. Sie sprechen erst mal die Sprache nicht, haben andere kulturelle Prägungen und bringen nicht zuletzt ihre Traumata mit aus Kriegs- und Verfolgungssituationen oder unmenschlichen Erlebnissen auf ihrer Flucht. Ich denke, davon müssen wir uns in Deutschland positiv herausfordern lassen.

Aber sehen wir uns die Zahlen der nach Deutschland Geflüchteten einmal genauer an. Flüchtlingsorganisationen haben ausgerechnet, dass wir in Deutschland – wenn die ukrainischen Flüchtlinge herausgenommen werden, die ja offiziell einen anderen Status haben – unterhalb der vom früheren Bundesinnenminister Seehofer geforderten jährlichen Obergrenze liegen.

Zudem: Wirklich ausreisepflichtig sind derzeit ca. 52.000 Menschen, also eine Anzahl, die sicherlich nicht für die ihr zugeschriebenen Probleme verantwortlich sein kann. Warum die Ausreise dieser Personen nicht gelingt, hat viele Gründe, beispielsweise weil die Herkunftsländer sie nicht wieder aufnehmen.

Betrachtet man diese Zahlen, dann wird deutlich: Über eine Million Menschen sind seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Bei allen anderen Ländern sind es trotz Krieg und Verfolgungssituationen nicht mehr Menschen, als selbst die CSU in der letzten Bundesregierung für durchaus verkraftbar hielt – im gesamten Jahr 2022 waren es weniger als 250.000 Menschen.

Über die Fakten zu informieren, ist sicher immer wieder notwendig, damit nicht mit aufgebauschten Halbwahrheiten oder Fake News Menschen aufgehetzt werden. Dennoch gibt es natürlich derzeit Probleme bei der Integration und der Unterbringung von Geflüchteten, und ein größerer Teil der Bevölkerung fordert eine deutliche Reduzierung bei der Aufnahme von Geflüchteten. Welche Möglichkeiten sehen Sie in dieser Lage?


Nehmen wir eine Stadt wie Lahnstein. Die Stadt hat auch Probleme, Geflüchtete unterzubringen. Aber sie schafft das immer wieder, wenn auch nicht immer unter idealen Bedingungen. Es kommen jetzt weniger Familien, mehr junge Männer. Und das ist immer schwierig. Aber ich habe mich extra noch einmal bei der zuständigen Behörde erkundigt. Die Stadt Lahnstein scheint dieser Aufgabe noch gewachsen zu sein, auch weil es hier eine überwiegend wohlwollende Einstellung der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten gibt. Eine wichtige Frage ist: Wie gewinnen wir Menschen, damit sie Wohnungen zur Verfügung stellen. Dabei ist die Haltung von Politik, Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Öffentlichkeit sicher ein wichtiger Faktor: Wird die Solidarität mit hilfsbedürftigen Menschen und die Bereicherung für die Aufnahme­gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt oder die Behauptung, bei den Flüchtlingen handele es sich vor allem um Verbrecher und Menschen, die unsere Sozial­systeme ausnutzen wollten.

Wir müssen natürlich auch überlegen, wie wir die Kommunen, die wirklich überlastet sind, entlasten können. Dafür müssen wir fair miteinander verhandeln. Das heißt: überlegen, woran es im jeweiligen Falle liegt. Dann können auch jeweils konkrete, auf den Einzelfall passende Lösungen erarbeitet werden. Und das fördert dann auch positive Veränderungen von Haltungen und Einstellungen, die lösungsorientiert sind, anstatt Hass und Hetze zu befördern, was im Übrigen kein Problem löst, sondern nur Sündenböcke schafft.

Immer wenn Wahlen anstehen, wird es besonders schwierig, lösungsorientierte, humane, menschenrechtsbasierte Wege vorzuschlagen. Ausländerfeindlichen und rechtspopulistischen Parteien gelingt es mit Schuldzuweisungen und einfachen Scheinantworten, die demokratischen Parteien vor sich her­zutreiben und zunehmend die Debatten in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu bestimmen. Mit Angst, Hass und Hetze gegen Minderheiten Politik zu ­machen, führt in ganz Europa zu einem massiven Erstarken rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien. Ist eine immer restriktivere und auf Abschreckung bauende Politik der Preis, um Parteien wie die AfD nicht noch stärker zu machen und die Demokratie zu retten?


Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wenn man Positionen der AfD vielleicht in etwas zivilerer Weise übernimmt, stärkt man nur das Original und macht solche Parteien immer wählbarer. Es kommt darauf an, konkrete Lösungen für reale Probleme zu erarbeiten. Wir sollten auch mehr die positiven Geschichten erzählen und diejenigen stärken, die der menschenverachtenden Politik solcher Parteien öffentlich entgegentreten. Die über 80% der Bevölkerung in Deutschland, die die Politik der AfD ablehnen, müssen sich mehr trauen, für ihre Überzeugungen öffentlich einzutreten, und das menschenfreundliche Gesicht unserer liberalen Demokratie zeigen.

Können wir in Deutschland etwas aus der insgesamt recht gut gelungenen Aufnahme von über einer Million Ukrainer:innen lernen? Diese Aufnahme war politisch gewollt und wurde auch eindringlich als humanitäres Engagement kommuniziert. Und: Die Geflüchteten hatten direkt Zugang zum Arbeitsmarkt.
Es gibt tatsächlich eine Diskussion darüber, was für alle anderen Flüchtlinge von diesen Erfahrungen übernommen werden sollte. Dies gilt beispielsweise für die Finanzierung über die Grundsicherung, den direkten Zugang zum Arbeitsmarkt und auch die Bereitstellung von mehr und besseren Integrationsangeboten. Das würde die Kommunen entlasten und die gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen. Es würde den Menschen ermöglichen, rasch etwas zu ihrem Lebensunterhalt mit beitragen zu können, und ihnen vermitteln, dass sie willkommen sind. Es ist also möglich, für die Geflüchteten, aber auch für die Aufnahmegesellschaft positive Veränderungen zu erreichen. Es tut sich was, wenn man das richtig angeht. Aber man muss das auch wollen.

Gehen die beiden neuen Gesetze der Ampelkoalition zur Ermöglichung des sogenannten Spurwechsels und das Chancenaufenthaltsrecht für Sie in eine positive Richtung?


Der sogenannte Spurwechsel soll es Asylbewerber:innen, über deren Antrag noch nicht abschließend entschieden ist, ermöglichen, ihren Asylantrag zurückzuziehen und eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Bedingung ist, dass sie ein Jobangebot als Fachkraft oder einen anerkannten Berufsabschluss vorweisen können. Nach Schätzungen betrifft dies kurzfristig ca. 30.000 bis 50.000 meist jüngere Menschen. Das Chancenaufenthaltsrecht ist eine Möglichkeit für abgelehnte Asylbewerber:innen, ein Aufenthaltsrecht zu erhalten, wenn sie sich ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern können und einige andere Integrationsvoraus­setzungen erfüllen. Das sind auf jeden Fall positive Veränderungen da diese Geflüchteten eine Aufenthaltsperspektive bekommen und sich besser integrieren können. Zudem profitieren Unternehmen davon, dass einige ihrer Arbeitnehmer:innen nun sicher bleiben können, und die Gesellschaft, wenn diese Menschen nun Steuern und Sozialabgaben zahlen. Mit ähnlichen Verfahren, die schon früher für Menschen aus den Westbalkanstaaten eingeführt wurden, haben wir hier in Lahnstein bereits gute Erfahrungen gemacht. Jugendliche aus diesen Ländern konnten beispielsweise ihre Ausbildung abschließen und hatten dann eine Bleibeperspektive, was die Integration erheblich erleichtert hat.

Da beide neuen Gesetze an Stichtagsregelungen gebunden sind, also nur Menschen betreffen, die vor einem bestimmten Tag nach Deutschland eingereist sind, muss abgewartet werden, ob diese Regelungen später noch mal verlängert werden. Grundsätzlich gilt: Es kommt auf unsere Haltung an gegenüber hilfs­bedürftigen Menschen. Hieran entscheidet sich, ob Europa der Kontinent der Menschenrechte bleibt oder zur »Festung Europa« wird und damit ­seine humanistischen und christlichen Wurzeln verrät. ◼

 Interview und Bearbeitung: Thomas Meinhardt