Weltweite Geschwisterlichkeit
Eine weltfremde Vision?
Interview über die Enzyklika »Fratelli tutti« und ihren möglichen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Haltungsänderung mit Prof. Lars Castellucci (MdB-SPD) und dem Franziskaner Stefan Federbusch
Was verbinden Sie persönlich mit Begriffen wie »weltweite Geschwisterlichkeit«, »soziale Freundschaft« oder auch »politische Nächstenliebe«, denen in der Enzyklika »Fratelli tutti« zentrale Bedeutung beigemessen wird?
Lars Castellucci: Ich bin Sozialdemokrat, und die Bewegung, die unsere Partei ins Leben gerufen hat, ist eine internationale Bewegung. Heute muss ich, wenn ich mich beispielsweise für Flüchtlinge einsetze, immer wieder begründen, warum ich gerade etwas für Flüchtlinge tue und nicht nur etwas für die einheimische Bevölkerung. Ich versuche das zu begründen, indem ich auf den Grundsatz »Wer Hilfe braucht, soll sie erhalten, soweit sie zu leisten ist« hinweise. Diese Zusage gilt gegenüber jedem Menschen. Der weiterführende Gedanke ist, nicht die Schwachen gegeneinander auszuspielen und sich entweder für die einen oder für die anderen einzusetzen, sondern auf Solidarität zu setzen, da wir gemeinsam etwas für alle verbessern können. Wenn wir die Grundsätze »die gleiche Würde aller Menschen« und die »Gottesebenbildlichkeit, die Gottes Liebe begründet« genauer betrachten, dann passen diese beiden Bilder wunderbar zusammen.
Stefan Federbusch: Weltweite Geschwisterlichkeit bedeutet für mich die Gleichheit aller Menschen im Sinne der Würde und der Menschenrechte, insbesondere die Gleichheit zwischen Männern und Frauen. Geschwisterlichkeit, Freundschaft und Nächstenliebe sind zunächst einmal Begriffe, die für Beziehung stehen. Zugleich würde ich aber den Begriff der Gerechtigkeit hinzunehmen im Sinne der genannten gleichen Würde aller Menschen. Weltweite Geschwisterlichkeit und politische Nächstenliebe bedeuten, dass es nur die eine gemeinsame Menschheitsfamilie gibt.
Mit seiner Enzyklika hat Papst Franziskus 2020 vor dem Hintergrund der massiven globalen Krisen ein ethisch und politisch begründetes leidenschaftliches Plädoyer für eine grundlegende Orientierung am globalen Gemeinwohl vorgelegt. Seine Forderung nach einem geschwisterlichen Dialog orientiert am Wohlergehen aller Menschen, insbesondere der Schwächsten, steht aber offensichtlich im diametralen Gegensatz zur realen Politik, aber auch zur wachsenden gesellschaftlichen Popularität für autoritäre, auf Ausschluss Fremder und nationalegoistische Lösungen setzende Bewegungen und Parteien. Wird vor diesem Hintergrund eine solche Wortmeldung in der Politik, aber auch in den Kirchen überhaupt wahrgenommen und diskutiert?
Lars Castelllucci: Nach meiner Beobachtung ist die Reichweite eines solchen Orientierungsschreibens wie einer Enzyklika beschränkt. Es ist gut, dass es diese Enzyklika gibt, und sie darf auch um die 120 Seiten umfassen. Aber man muss auch sehen, dass heutzutage kaum jemand einen solchen Text vollständig liest. Die Aufmerksamkeitsspanne ist brutal reduziert durch soziale Medien und die Beschleunigung unserer Welt. Ich glaube, wir brauchen hier neue Kommunikationsformate.
Es ist zudem kein Geheimnis, dass die Kirchen in Deutschland stark mit sich selbst beschäftigt sind. Die Zusammenlegung und Neuzusammenstellung von Gemeinden oder Seelsorgeeinheiten bindet unglaublich viel Kraft. Und diese fehlt dann bei dem, was man eigentlich verkünden will.
Für mich ist entscheidend, dass wir versuchen, Brücken zu schlagen. Man darf eine solche Enzyklika nicht nur an Bundestagsabgeordnete versenden, sondern muss wirklich Gesprächsformate entwickeln, in denen man auch mit gesellschaftlichen Gruppen über die zentralen Aussagen ins Gespräch kommt, an die man vielleicht erst mal gar nicht gedacht hat. Ich denke, man kann durchaus sagen: »Wir haben ein Anliegen, und wir wissen auch nicht genau, wie wir das umsetzen sollen. Aber lasst uns drüber reden, wie ihr das seht. Was sind eure Wertehaltungen? Vielleicht können wir gemeinsam etwas bewegen.« Dieses Aufeinander-Zugehen und diese Dialoge sind zentral, um die Diskussion über die wesentlichen Aussagen gerade dieser Enzyklika wirkungsstärker zu führen.
Wie sieht das in der Kirche aus, Bruder Stefan? Sie haben sich ja stark engagiert, um diese Enzyklika und deren Inhalt vorzustellen in verschiedensten Gemeinden und Gremien.
Stefan Federbusch: Der Punkt ist: Was erzielt Wirkung? Was motiviert Menschen? Was setzt Menschen in Bewegung? Es sind weniger lange Texte wie die Enzykliken, sondern visionäre Bilder, Hoffnungsgeschichten und positive Zukunftserzählungen. Papst Franziskus gebraucht ein interessantes Bild, das aber so gut wie nicht wahrgenommen wurde: das Bild des Polyeders, also eines Vielflächners. Er will damit sagen, dass jede einzelne Seite, dass das Einzelne bedeutsam ist, aber es zugleich auf das Ganze ankommt. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Einzelteile. Konkret geht es darum, dass nicht nur eine einzige Kulturform vorherrscht, sondern es eine Vielzahl von Kulturen gibt. Die eigene Kultur darf und soll wertgeschätzt werden, aber es gilt, das übergeordnete Ganze, das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Das gilt es immer wieder einzubringen gegen ein autoritäres und autokratisches Denken. Es geht nicht darum, die eigene Kultur aufzugeben, sondern zu schauen, wie Menschen aus unterschiedlichen Kulturen produktiv und sich gegenseitig bereichernd zusammenleben können. Papst Franziskus sagt es so: »Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich.« (215)
Die Botschaft der Enzyklika propagiert inhaltlich das Gegenteil vieler aktuell geführter Debatten. Es wird »das gute Leben für alle« in den Mittelpunkt gestellt, anders als bei den eher nationalegoistischen Debatten, die wir häufig hören. Findet eine solche Haltung Ihrer Meinung nach einen Zugang in die aktuelle Debatte, obwohl sie inhaltlich so anders scheint und eher kooperative Lösungen finden will? Und wie kann ein solcher Dialog überhaupt initiiert werden, sodass eine gleichberechtigte Grundhaltung überhaupt diskutiert werden kann?
Lars Castellucci: Allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, das sollte unser Ziel sein. Was ein gutes Leben ist, sollen die Menschen selbst entscheiden. Und dafür auch selbst etwas tun: Es braucht Eigenverantwortung. Doch mehr noch braucht es die Mitverantwortung. Denn, so sehe ich das: Gutes Leben braucht die Anderen. Doch diese Haltung ist nach Jahrzehnten der Individualisierung nicht gerade der herrschende Zeitgeist. Ich bin der Überzeugung, dass wir heute das Soziale erneuern müssen. Die Herausforderungen werden nicht weniger. Um sie zu bestehen, braucht es mehr Miteinander und auch Füreinander, kein bloßes Nebeneinander. Wir sind soziale Wesen und fähig, zusammen mehr zu erreichen. So wird vieles im Leben leichter oder sogar erst möglich. Dabei wertschätze ich durchaus die Individualisierung, die uns alle freier leben lässt als jede Generation vor uns. Nur ist der Mensch eben nicht vollständig, wenn er nur auf sich bezogen ist. Das ist beispielsweise ablesbar an den Statistiken der Krankenkassen: Danach macht es den Menschen durchaus zu schaffen, wenn sie nur auf sich selbst zurückgeworfen sind. Man muss also den Wert der Gemeinschaft, des Sozialen wieder betonen. Es ist Zeit für einen neuen Zeitgeist.
Es ist gut, wenn der Startschuss für ein solches neues Nachdenken aus einer christlichen Perspektive kommt. Denn wenn man über das Gemeinwohl nur in einem Kontext spricht, der suggeriert: »Ich muss etwas abgeben, und es wird für mich weniger und schlechter«, dann können wir philosophisch dagegenhalten und sagen: »Wenn man was teilt, dann wird man reicher.« Aber die Menschen draußen, die mit Inflation kämpfen oder keine bezahlbare Wohnung finden, für die ist es ein weiter Weg zu dieser philosophischen Überlegung. Umso wichtiger ist es, den Gedanken starkzumachen, dass für alle gesorgt ist, dass für alle genug da ist, und dass es nicht nur darum geht, einen kleiner werdenden Kuchen gerechter zu verteilen, sondern dass wir Menschen dazu in der Lage sind, den Kuchen größer zu machen. Und: dafür zu sorgen, dass alle ihren gerechten Anteil davon bekommen können. Wenn wir uns diese Naivität nicht bewahren, die Träume, dass es besser werden kann, dann gibt es keine Hoffnung.
Bruder Stefan, haben Sie eine Idee, wie man so etwas initiieren kann?
Stefan Federbusch: Papst Franziskus gesteht, dass das eine naive Utopie zu sein scheint, aber eine, auf deren höchste Ziele wir nicht verzichten können. Ihm geht es um eine Kultur der Begegnung. Ich denke, dass es auch auf politischer Ebene nicht anders als durch Begegnung gehen kann. Wenn man sich kennt und freundschaftlich verbunden ist, wird man nicht gegeneinander handeln, sondern miteinander. Solche Begegnungen werden beispielsweise durch Schüleraustausch, Städtepartnerschaften und Ähnliches eingeübt. Von den Politiker:innen fordert der Papst Verzicht und Geduld ein. Da wird klar, es geht immer auch um innere Haltungen, um Bewusstseins- und Lernprozesse. Auch dazu braucht es den Austausch, das Gespräch, den Dialog.
Wichtig wäre aber auch die Frage: Um welche Art von Gerechtigkeit geht es denn? Das eine ist die Bedarfsgerechtigkeit. Was brauche ich für mein Leben, wenn es ein gutes Leben sein soll? Das andere wäre die Teilhabegerechtigkeit. Wie komme ich zu meinem Recht, mich an gesellschaftlichen Diskussionen beteiligen zu können? Von politischer Seite gibt es den Vorschlag, so etwas wie einen Bürgerdialog oder ein Bürgerforum einzurichten. Aber die Frage ist, welche Formate schaffen wir, damit Menschen tatsächlich wieder miteinander ins Gespräch kommen? Vor allem auch Menschen, die gegensätzliche Positionen vertreten.
Es fehlt uns also eine Art Marktplatz, wie es früher die Kirchengemeinden oder große Betriebe waren, in denen Leute mit unterschiedlichen Meinungen und Herkünften miteinander ins Gespräch kommen.
Lars Castellucci: Nach solchen Orte zu suchen und neue zu initiieren, ist ein Aufruf an uns alle: Wir können in dem Umfeld, in dem wir leben, etwas verändern und gemeinsam mit anderen noch viel mehr.
Ich bin im Moment dabei, mit einer sehr bunt zusammengesetzten Gruppe aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft zu überlegen, wie wir wieder zu einer positiven Zukunftserzählung im Land kommen. Also dahin, dass die Menschen Hoffnung spüren und nicht immer nur glauben, dass alles schlechter wird.
In meinem Wahlkreisbüro ist vor Kurzem ein Vertreter des Christlichen Vereins junger Menschen CVJM gewesen, dem ich von dieser Initiative erzählt habe. Da sie sich hierbei engagieren wollten, haben ich sie gebeten, doch bitte auch in der Kleingartenanlage nebenan anzufragen, ob sie auch mitmachen wollen. Einfach damit man nicht immer nur in seinem eigenen Kreis redet. Man muss Menschen aus anderen Milieus miteinbeziehen.
Auch die 40.000 Kirchengebäude, die bis 2060 abgestoßen werden müssen, könnten eine Chance für die Kirchen bieten, um wieder in der Mitte unserer Städte und Gemeinden Orte der Begegnung für alle zu schaffen – idealerweise auch gemeinsam mit Leuten, die die Kompetenz haben, diese Vielfalt zu moderieren. Mit anderen gemeinsam zu erleben, dass Zusammenhalt guttut und stärkt, aber eben auch herausfordernd ist, erfordert einen kulturellen Wandel. Und man kann nicht davon ausgehen, dass der von heute auf morgen gelingt. Aber viele sind schon unterwegs im Land. Da müssen wir ansetzen und das weiter stärken. Das verändert noch nicht gleich die große Politik, aber Menschen erfahren so etwas wie Geborgenheit im Wandel. Ich erlebe vielleicht, dass ich dazu beitragen kann, dass die Dinge des Alltags um mich herum gut funktionieren, oder ich fühle mich einfach eingebunden, gebraucht, sinnvoll wahrgenommen. Und damit hat der Mensch schon sehr, sehr viel von dem, was er braucht für ein gutes Leben.
Wenn die Arbeit für weltweite Geschwisterlichkeit, für Frieden und soziale Gerechtigkeit, für die Vision eines guten Lebens für alle, … vor allem konkrete »Handarbeit« ist und im Dialog geschehen muss, wo sehen Sie zentrale Aufgaben für Politik, Kirchen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen, um diesen Zielen näherzukommen?
Lars Castellucci: Sie haben Politik, Kirchen, Zivilgesellschaft angesprochen, und ich glaube, dass zunächst jeder seine ganz spezifischen Aufgaben anpacken muss, also dort, wo das jeweilige primäre Handlungsfeld liegt. Darüber hinaus ist entscheidend, dass mehr als früher gemeinsam getan wird. Ich glaube, dieses Bewusstsein wächst in Deutschland wieder. Ein Beispiel sind für mich die Großdemonstrationen Anfang dieses Jahres für Demokratie und gegen Hass und Hetze. Dort kamen Millionen in einer Zusammensetzung zusammen, die ich so vielleicht noch nie erlebt habe. Es wächst auch wieder die Erkenntnis, die in der Enzyklika angelegt ist, dass man rausmuss aus seinen eigenen Nischen und diese Kultur der Begegnung braucht. Um Bischof Bätzing zu zitieren: »Echte Dialoge statt parallel verlaufende Monologe.« Das klingt einfach, aber in Wahrheit findet es noch zu wenig statt. Alle sind gefährdet, nur in ihren Blasen unterwegs zu sein. Man trifft sich zu selten. Die Pandemie hat uns weitere Steine in den Weg gelegt. Auch in meinem Wahlkreis spüre ich das so. Es kam zum Beispiel ein Ortsvorsteher zu mir und sagte, dass es ihnen alles zu viel wäre mit den Flüchtlingen. Ich bat ihn dann darum, dass er alle einlädt, die beteiligt sind, und wir gemeinsam darüber sprechen und nach Lösungen suchen. »Denn wenn ich einlade, kommen nur die eigenen Leute, aber wenn du einlädst, vielleicht mit dem Pfarrer oder irgendeinem großen Verein, könnte es gehen, dass sich die Menschen wirklich eingeladen fühlen und miteinander teilen, was sie bewegt. Ihr könnt einfach eure Mehrzweckhalle mieten, und wir kommen dazu und reden.« Das ist für mich Demokratie. Da fängt es an, dass man einander zuhört, dass man einander begegnet und dass man auch merkt, wie die Perspektiven sich doch ein bisschen mischen. Und vielleicht sind sogar ein paar im Raum, die sagen, dass sie noch ein bisschen was machen können vor Ort, damit es noch ein bisschen besser wird. Das ist der Ausgangspunkt von allem, und das kann jeder von uns vor Ort versuchen mit anzustoßen.
Stefan Federbusch: Bereits Hans Küng hat in seinem Projekt Weltethos davon gesprochen, dass es keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden gibt. Für die Kirchen ist es der interreligiöse Dialog, den es zu fördern gilt, wie es beispielsweise San Egidio mit den entsprechenden Treffen der Verantwortlichen der verschiedenen Religionsgemeinschaften tut. Papst Franziskus trifft sich immer wieder mit ihnen, etwa mit Ahmed al-Tayyib, dem Großimam der AI-Azhar-Universität in Kairo. Daraus ist 2017 das Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen entstanden. Darin wird festgehalten, dass auf den Dialog als Weg, die Zusammenarbeit als Stil und das Wissen umeinander als Methode und Kriterium gesetzt werden solle. Das, was hier auf der Ebene der Leitungsverantwortlichen geschieht, muss es auch an der Basis auf vielfältige Weise geben. Begegnung schafft Beziehung und damit Freundschaft und Frieden.
Neben dem interreligiösen braucht es den kulturellen Dialog, der es ermöglicht, aus den eigenen Blasen herauszukommen. Es braucht das Gespräch und die Vernetzung ganz unterschiedlicher Akteure, um wieder ein positives gesellschaftliches Klima zu erzielen und die großen Herausforderungen wie den Klimawandel anzugehen. Es braucht die Erfahrung, dass sich gemeinsam mit verschiedenen gesellschaftlichen Kräften etwas bewirken lässt, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit im Rahmen von Vergemeinschaftung. Es braucht partizipative Elemente, im Politischen in Form einer direkten Demokratie (Bürgerdialog, Bürgerräte), in der Gesellschaft in Form von Austauschforen, von Erzähl- und Begegnungsräumen, in den Kirchen in Form stärkerer synodaler Strukturen. ◼
Interviewpartner


Der Beitrag ist in der Ausgabe 4/2024 unserer Ordenszeitschrift »Apostel« erschienen, die sich mit dem Thema »Weltweite Geschwisterlichkeit« befasst.
