© Holger Rehländer
Geschwisterlichkeit leben in Berlin-Kreuzberg
Interreligiöser Dialog und weltweite Geschwisterlichkeit sind zentrale Anliegen von Papst Franziskus. Die Winter-Ausgabe unserer Zeitschrift Apostel gibt Anreize, sich mit diesem wichtigen Thema zu beschäftigen. Der folgende Beitrag ist diesem Heft entnommen.
»Wir möchten den Menschen Bruder sein«, so haben die Steyler Ordensbrüder Emanuel und Bernd ihr Selbstverständnis einmal zusammengefasst. Die beiden sind im Frühjahr 2020 gemeinsam mit mir in das Pfarrhaus der Kirche St. Marien Liebfrauen in Berlin-Kreuzberg eingezogen – in einer Umgebung mit zwiespältigem Ruf. Ein »kriminalitätsbelasteter Ort« ist es für die einen – mit Drogenhandel, einer hohen Verbrechensquote und vielen Menschen, denen das Nötigste zum Leben fehlt. Ein »Place to be« ist es für andere – ein Ort zum Feiern, Ausgehen und Leben. Für uns: ein Lernort der Geschwisterlichkeit.
Verbundenheit und Planlosigkeit
Zuallererst ist eine Grundhaltung der unbedingten Verbundenheit einzuüben. Wie Geschwister sind wir Teil einer »Wahlfamilie« und auch einer Menschheitsfamilie, ohne etwas dafür tun zu müssen. Wir sind Nachbarn und Mitmenschen. Und wir haben uns bemüht, im besten Sinne des Wortes planlos zu sein. »Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek«, rät Madeleine Delbrêl, die Mystikerin der Straße. Im Gespräch in unserer WG haben wir uns immer wieder von den Entdeckungen erzählt, die Ergebnis dieser Planlosigkeit waren, den begeisternden und den belastenden.
Über die Kirche hinaus
So kamen wir beispielsweise mit Menschen ins Gespräch, die in unserer Kirche einen spirituellen Kraftort entdeckt haben, ohne kirchlich fest verankert zu sein.
Entstanden ist daraus eine meditative Abendliturgie, die seitdem jeden Dienstagabend zu Ruhe und meditativer Musik, einem kurzen Impuls, Gesängen und der Möglichkeit zum persönlichen Segen einlädt. Jede:r ist willkommen und kann sich auch als Leiter:in oder Impulsgeber:in in die Liturgie einbringen. Und an unserem zweiten Kirchenstandort laden Menschen aus der Umgebung mittlerweile zum Nachbarschaftsflohmarkt ein und mischen sich am Sonntag dort mit den Gottesdienstbesucher:innen.
Begegnungen, die verändern
Wir haben bei der fast täglichen Essensausgabe auf unserem Kirchhof mitgeholfen oder waren häufig auf dem Kirchhof präsent, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Hautnah erlebten wir den Teufelskreis von Drogensucht und Beschaffungskriminalität, Gewaltspiralen und die Suche nach einem geschützten Schlafplatz. Und wir hörten auch manche Lebensgeschichte. Besonders bewegt hat mich der Mann, der Zeitungen verkauft und erzählte: »Die Leute geben immer weniger, das Überleben wird immer komplizierter. Aber was noch schlimmer ist: Sie schauen mich noch nicht einmal an.« Wir begegnen uns immer wieder in unserem Kiez und gehen mittlerweile nie ohne ein paar Worte aneinander vorbei. Als Bruder Bernd etwas nervös zu einem Vorstellungsgespräch ging, machte er ihm Mut: »Du bist doch super. Natürlich werden sie dich einstellen.«
Dasein in Offenheit
Kurz bevor ich in diesem Herbst in eine andere Gemeinde gewechselt bin, haben wir noch einmal zusammen überlegt, was der Kern unserer Pfarrhaus-WG war und ist. »Da sein« haben wir diese Hauptaufgabe genannt. Mit der Bereitschaft, in jeder Person eine Schönheit zu entdecken, die man vielleicht auf den ersten Blick nicht zu sehen vermag. Ich denke, damit fängt »geschwisterlich leben« an. Und geht dann meist überraschend weiter … ◼
Autor des Beitrags

Holger Rehländer
Der Autor des Beitrag ist Priester im Erzbistum Berlin und teilt seine Entdeckungen gerne bei Instagram unter dem Namen @draussen_glauben

Der Beitrag ist in der Ausgabe 4/2024 unserer Ordenszeitschrift »Apostel« erschienen, die sich mit dem Thema »Weltweite Geschwisterlichkeit« befasst.