Sind Glaube und Mystik etwas rein Privates?
von P. Manfred Kollig SSCC
Auf den ersten Blick scheint es egal zu sein, ob jede und jeder für sich allein glaubt oder aber zusammen in der Gemeinschaft der Kirche. Immer mehr Menschen kehren den christlichen Kirchen den Rücken und treten aus. Manche sagen: Die Kirche ist zu sehr von oben gesteuert, beherrscht von Bischöfen und Priestern – alles Männer. Andere beklagen, dass sie zu sehr bestimmt werde von Laienfunktionär:innen in Verbänden und Gremien. Wieder andere bemängeln, dass die Kirche zu sehr von außen gesteuert werde, sich zu sehr auf staatliche Vorgaben und weltliche Gesetzmäßigkeiten einlasse. Zu viel von oben, zu sehr von unten, zu stark von außen; das legt den Schluss nahe: Kirche ist egal und überflüssig. Hauptsache, ich glaube, ich verkünde, ich lebe überzeugt und überzeuge.
Zunächst mute ich zu diesem Thema ein zugegebenermaßen schwer verständliches Zitat des katholischen Priesters, Religionsphilosophen und Theologen Romano Guardini zu. Er schrieb: »Die Kirche erwacht in den Seelen. Das will recht verstanden sein. Vorhanden war sie stets, und allezeit hat sie für den Glaubenden Entscheidendes bedeutet. Er hat ihre Lehre aufgenommen und ihre Weisungen befolgt; ihr starkes Sein war ihm Halt und Zuversicht. Als aber die individualistische Entwicklung seit dem ausgehenden Mittelalter eine gewisse Höhe erreicht hatte, wurde die Kirche nicht mehr als Inhalt des eigentlichen religiösen Lebens empfunden. Der Gläubige lebte wohl in der Kirche und war von ihr geführt; er lebte aber immer weniger die Kirche. Das eigentliche religiöse Leben neigte immer mehr in den Bereich des Persönlichen. So wurde die Kirche als Grenzwert dieses Bereiches empfunden, vielleicht sogar als ein diesem Bereich Entgegengesetztes.«
Diese Gedanken erinnern daran, dass Kirche nicht von oben oder unten und ebenso wenig von außen gedacht und gestaltet werden kann. Vielmehr muss sie ein Herzensanliegen sein. Das heißt: Sie muss einen Platz im Innern des Menschen, »in seiner Seele«, haben. Dabei übersieht Guardini nicht die hässlichen Seiten der Kirche. Er weiß und leidet daran, dass diese Kirche unglaubwürdig ist, weil »die da oben« und »die da unten« sich zu sehr von außen und von Äußerlichkeiten leiten lassen. Er erinnert daran, dass diese Kirche zwar in ihrer konkreten Gestalt auch böse Seiten hat. Dass aber diese Kirche wichtig ist, weil Gott sich nicht umfänglich im einzelnen Menschen zu erkennen gibt. Sonst gäbe es einen Menschen, der wie Jesus wäre. Vielmehr möchte sich dieser Gott als ein Gott zeigen, verkünden und darstellen lassen, der ein Gott in Beziehung ist. Den christlichen Gott können wir Menschen nur in Gemeinschaft glaubwürdig bezeugen. Er lässt sich nicht in einem »Ein-Personen-Stück« auf die Bühne bringen, sondern nur in einem Gemeinschaftswerk.
Gleichzeitig gelingt dieses Gemeinschaftswerk Kirche aber nur, wenn jeder einzelne Mensch seinen Teil übernimmt. In seinem Innern, in seiner Seele, erwacht die Kirche. In seinem Innern wächst diese Kirche, die vom Geist Gottes geprägt wird. In seinem Innern: Das bedeutet, die Kirche erwacht in dem Maße im Menschen, wie der einzelne Mensch wach wird. Wach, um mit den Augen des Glaubens auf diese Welt zu sehen. Wo die Kirche tatsächlich mehr ist als eine Kontrollinstanz und mehr als eine ordnende Kraft, dort schaut sie mit den Augen Jesu auf die Wirklichkeit: Sie sieht nicht nur das, was ist, sondern auch das, was sein kann und sein wird. Sie sieht nicht nur, was man benennen kann, sondern auch das, was von Jesus Christus versprochen wurde. Wo die Kirche im Innern erwacht, sieht der Mensch nicht nur die Sünde des anderen, sondern auch die Barmherzigkeit und den Vergebungswillen Gottes. Wo die Kirche in den Seelen erwacht, sieht der Mensch in dem Sterbenden nicht nur die Vergänglichkeit, sondern auch die Verheißung Jesu und die daran geknüpfte Möglichkeit zu leben.
Mystik wird oft verstanden als etwas rein Privates. Es wird der Eindruck erweckt, als behindere Kirche den mystischen Menschen. Stattdessen aber ist Kirche gerade jener Raum, in dem wir Menschen die persönlichen Erfahrungen mit Gott ins Gebet bringen, sie deuten und miteinander feiern. Wenn Kirche nur als Instanz verstanden wird, die Weisungen gibt und lehrt, dann wird von den Menschen in ihr erwartet, dass sie Standpunkte vertreten, standfest sind im Sinne von »stehen bleiben«. Das ist dann eine Kirche von oben, unten und außen. Eine Kirche, die im Innern des Menschen erwacht, ist eine Kirche, die zum Sehen und zum Gehen einlädt. Guardini bezeugte, dass es ihm einerseits immer um die Kirche ging, die Jesus Christus als Gemeinschaft der Glaubenden darstellt und erfahren lässt. Und dass er andererseits, um dieser Kirche zu dienen, immer allein gegangen ist.
Eine Kirche, die im Innern des Menschen erwacht, ist eine Kirche, die aus dem Geist Gottes die Welt sieht, in der Jesus Christus, wie er seinen Jüngerinnen und Jüngern versprochen hat, beisteht und durch Zeichen sein Wort bekräftigt. Mystikerinnen und Mystiker erkennen und bezeugen diese Zeichen im Gehen.
Den christlichen Gott können wir Menschen nur in Gemeinschaft glaubwürdig bezeugen
Der Beitrag ist in der Ausgabe 3/2024 unserer Ordenszeitschrift »Apostel« erschienen, die sich mit dem Thema »MYSTIK« befasst.
Autor des Beitrags
© Walter Wetzler / Erzbistum Berlin