Die entscheidende Frage:

Was würde Jesus tun?

Die katholische Kirche hat sich offiziell erst spät zur unantastbaren Würde des Menschen bekannt – so wie es das Grundgesetz tut. In der langen Geschichte der Kirche und regional sehr unterschiedlich hat sich die Kirche erschreckend oft auf die Seite der Menschenverächter geschlagen. Ein paar Stichworte sollen hier genügen: Die Kreuzzüge wurden nicht nur zu Heiligen Kriegen gegen islamische Herrscher im Heiligen Land, sondern auch zu einer Lebensbedrohung unerhörten Ausmaßes für jüdische und ostkirchlich-christliche Gemeinden, die am Wegesrand der Kreuzzüge lebten. Die Ketzer- und Hexenverfolgungen führten zur Ermordung und Verfolgung von vielen Menschen in West- und Mitteleuropa. In der Kolonialgeschichte Amerikas, Afrikas und Asiens hat die Kirche sich an der Ausbeutung und Unterdrückung der einheimischen Volksgruppen beteiligt – oft auch der Ermordung ganzer Völker teilnahmslos zugesehen oder sie sogar befürwortet. In all diesen Situationen gab es zwar auch Stimmen, die sich gegen jede Form von Menschenverachtung eingesetzt haben – manche nur halbherzig, andere mit großem und bewundernswertem Engagement. Allzu oft blieben sie aber die Ausnahme

Das Zweite Vatikanische Konzil war der Wendepunkt –
das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II.
ein Meilenstein

Diese Haltung hat sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegend verändert. Die Menschenrechte waren bis dahin abgelehnt worden, weil sie verdächtigt wurden, zu einer gottlosen Weltanschauung zu gehören. Seit dem Abschluss des Konzils im Jahre 1965 und seiner Besinnung auf die Ursprünge des Christentums und der Haltungen Jesu selbst wird die Geschichte der Kirche auch von der kirchlichen Leitung sehr kritisch gesehen. Das Schuldbekenntnis der Kirche durch Papst Johannes Paul II. im Heiligen Jahr 2000 brachte dies zum Ausdruck. Papst Franziskus erinnert die Christenheit heute immer wieder daran, dass das Beispiel Jesu für uns Christen von richtungsweisender Bedeutung ist. Das erinnert mich immer an meinen Religionsunterricht in der Grundschule. Die Lehrerin sagte uns von der ersten Klasse an immer wieder: Christsein, das bedeutet, sich zu fragen, was würde Jesus heute an meiner Stelle tun? Und ich glaube, dass dies immer noch die entscheidende Frage ist. Was würde Jesus heute an meiner Stelle tun? Und zur Frage der Achtung der Menschenwürde zeigt uns Jesus seine Haltung an einer Reihe von Beispielen:

Jesus heilt Kranke und rettet Aussätzige vor dem sicheren Tod. Jesus ruft Tote ins Leben zurück und gibt den Mutlosen neue Hoffnung. Jesus rettet die Ehebrecherin vor dem sicheren Tod und nimmt Prostituierte in die Gruppe seiner Jüngerschar auf. Jesus bewirkt, dass sich korrupte Beamte des Römischen Reiches und Soldaten des Römischen Heeres, die die Menschen ausgebeutet haben, bekehren und ein anderes Leben führen. Und es gibt keine einzige Stelle, an der Jesus einen Menschen gewalttätig behandelt hätte. Im Zorn wirft er zwar die Stände der Händler im Tempel um, aber er verprügelt sie nicht. Er ruft nicht zu Gewalttaten auf. Er lässt sich widerstandslos am Ölberg festnehmen. Er erträgt die Gewalt des ungerechten Urteils durch den Hohen Rat und den Römischen Statthalter, Schläge und Geißelung. Jesus liebt den Sünder – aber er hasst die Sünde. Er beugt sich lieber der Gewalt, als dass er mit Gewalt antwortet. Jesus lehrt, sogar die Feinde zu lieben. Das ist das Beispiel, das Jesus gegeben hat, und das ist die Richtung, die er seiner Jüngerschar gewiesen hat.

Die Würde irgendeines Menschen anzutasten, heißt die Würde Gottes selbst anzutasten

Dahinter steht eine Haltung, die in jedem Menschen das Abbild des lebendigen Gottes erkennt, ein geliebtes Kind des Vaters, einen Menschen, dessen Würde unantastbar ist, weil die Würde des Menschen anzutasten heißt, die Würde Gottes selbst anzutasten. Der Mensch ist für Jesus der erste Tempel Gottes, den zu achten und zu ehren für seine Jüngerschar zum Maßstab wird. Das ist die große Herausforderung – und sie hat bis in die Formulierung der Charta der Menschenrechte und des Grundgesetzes hinein nachgewirkt. Jesus nachzufolgen bleibt eine große Herausforderung. Jesus verzichtet auf Rache – er fordert Gerechtigkeit ein, aber er erträgt, dass ihm Unrecht getan wird. Er gibt sein Leben hin, damit seine Freunde, seine Jünger, die Armen und die Schwachen, die Ausgestoßenen und die Sünder das Leben in Fülle haben – und es ihm gleichtun und ihr Leben mit anderen Menschen teilen. Die bleibende Frage ist also: Wie folgen wir Jesus in unserem Leben nach? Was würde Jesus heute an meiner Stelle tun? Wie würde Jesus heute an meiner Stelle handeln? Auf die Seite welcher Menschen würde Jesus sich heute solidarisch stellen, weil sie ärmer und verachteter, hilf- und wehrloser sind, und wie würde er dies tun? Wie würde Jesus ideologische Verblendungen als solche entlarven, weil sie die Würde jedes Menschen als meiner Schwester und meinem Bruder und als Abbild des lebendigen Gottes missachten?

»Die Würde des Menschen ist unantastbar«,
ist die notwendige Bedingung dafür,
dass gutes und gelingendes
Zusammenleben möglich wird

Das ist die große Frage, an der sich so vieles entscheidet – auch die Frage, wie ernst wir es mit unserer Nachfolge Jesu als seine Jüngerschar meinen. Ich finde dies ist eine große Herausforderung. Und ich glaube, dass dies auch die entscheidende Frage für die Erneuerung der Kirche ist. Passt das, was ich für richtig halte, zu Jesus und seiner Jüngerschar? Achtet das, was ich für richtungsweisend halte, auf die Würde des Menschen, der Abbild des lebendigen Gottes ist? Gelten die Maßstäbe, die ich für richtig halte, für alle Menschen oder doch nur für eine Auswahl? Sind die Grundüberzeugungen mit dem Liebesgebot Jesu vereinbar – Gott aus ganzem Herzen zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst? Passen sie auch zu der uns oft als kaum lebbar erscheinenden Forderung, unsere Feinde zu lieben, wie Jesus es getan hat?

Für mich ist hier noch ein anderer Aspekt von großer Bedeutung, den ich durchaus im Handeln Jesu erkennen kann: Ich frage mich immer, wer ist schwächer und wehrloser in einem Konflikt? Jesus hat den Schwachen und Wehrlosen beigestanden – die Starken und Wehrhaften können sich ja selbst verteidigen ...

Die Würde des Menschen ist unantastbar – das bedeutet, in moderner Sprache gesprochen, was Jesus sagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Liebt eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen! Eine große Herausforderung – aber damit beginnt eine neue Art des Zusammenlebens, die auch das Grundgesetz fördern will, damit Hass und Gewalt wie zu Zeiten der Nazi-Herrschaft endgültig der Vergangenheit angehören und ein Zusammenleben in Achtung der Verschiedenheit, in Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden möglich wird. Mit dieser Zukunftsvision berühren sich die Botschaft Jesu und die Botschaft des Grundgesetzes.<

Ludger Widmaier SSCC

Der Seelsorger an der Citykirche in Koblenz ist Redakteur des Apostels