Besuch bei Brüdern

Interview mit dem Generaloberen Alberto Toutin SSCC

Pater Alberto, Sie haben in diesem Frühjahr die Deutsche und die Polnische Provinz bereist. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?

Ja, Derek Laverty, unser Generalvikar, und ich hatten die Möglichkeit, die Mitbrüder beider Provinzen an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen besuchen zu können.
Die Deutsche Provinz erlebten wir als eine Gruppe von Brüdern, die sich bemühen, dem Geist der Gemeinschaft SSCC im täglichen Leben treu zu sein, das bei vielen von den Einschränkungen durch Alter und Krankheit geprägt ist. Dieser Geist zeigt sich in der Treue zum täglichen Gebet und zur Anbetung, in der Liebe zu den Mitbrüdern mit Respekt und Geduld, in der Dankbarkeit für die Samen des Evangeliums, die sie im Laufe ihres Lebens gesät haben, und in der Zuversicht, dass Gott und andere Mitarbeiter:innen sie wachsen lassen werden. Zudem versucht diese Provinz, neue Formen des kirchlichen Lebens und Dienstes zu fördern, wie beispielsweise in der Stadtkirche in Koblenz. Hier ist ein Ort des Zuhörens und der geistlichen Begleitung im Herzen der Stadt entstanden, mit starker Beteiligung von Laiinnen und Laien und im Dialog mit verschiedenen Akteur:innen in der Stadt. Diesen Ansatz verfolgt auch die internationale Kommunität in Berlin.

Die Polnische Provinz ist mit einem Durchschnittsalter von 57 Jahren im Unterschied zur Deutschen Provinz eine recht junge Gemeinschaft. Sie engagiert sich sehr für den pastoralen Dienst, insbesondere in den Pfarreien. Wir haben sie darin bestärkt, ihrem pastoralen Dienst in den Pfarreien weiterhin den besonderen »Farbanstrich« unseres SSCC-Charismas zu geben. Und wir haben sie ermutigt, ihre Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu verstärken, um ihnen einen spirituellen Lebensweg anzubieten. So können Familien gestärkt werden, um die Herausforderungen der Moderne besser zu bewältigen, vor denen Familien heute stehen. Dies gilt besonders für den Dialog zwischen den Generationen über Glaubensinhalte und -praxis, die gemeinsame Gestaltung der Ehe und die Wahrnehmung von Verantwortung füreinander.

Wir haben bemerkt, dass sich die polnische Gesellschaft in den letzten Jahren stark verändert hat. Die katholische Kirche ist nach wie vor ein wichtiger Faktor der sozialen und kulturellen Verbindung in Polen und für die Polinnen und Polen, die in Norwegen, Deutschland und Österreich leben. Aber sie kann sich nicht mehr auf eine selbstverständliche traditionelle Glaubenspraxis stützen. Dieses Glaubensverständnis muss angesichts der Fragen, die junge Menschen über den Sinn ihres Lebens vor eine von Unsicherheit geprägten Zukunft stellen und über die Kirche und die Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses, neu reflektiert werden. Und dieses traditionelle Glaubensverständnis muss auch angesichts der Herausforderungen überdacht werden, vor denen Familien und das soziale Zusammenleben in einer sich wandelnden Gesellschaft stehen. Diese ist zunehmend von einer Pluralität der Lebensentwürfe und Werte geprägt, das können wir nicht ignorieren.

In der Ukraine gibt es seit mehr als 30 Jahren eine SSCC-Präsenz durch einige polnische Mitbrüder. Wie erleben die polnischen Mitbrüder die Kriegssituation in ihrem Nachbarland? Hatten Sie auch Kontakt mit dem polnischen Bruder, der zurzeit in der Ukraine lebt, bei Ihrem Besuch der polnischen Provinz?


Wir haben den 72-jährigen Pater Jan Dziadkiewicz getroffen. Er lebt seit mehr als 22 Jahren in Machniwka in der Verwaltungseinheit Winnyzja im Westen der Ukraine. Seine Großmutter und seine Eltern wurden in der Ukraine – im damals polnischen Teil – geboren. Dort, wo Jan wohnt, hat es bis zum Zeitpunkt unseres Treffens weder Beschuss noch Kämpfe gegeben. Allerdings sehen oder hören die Menschen die Raketen und Kampfflugzeuge, die in der Ferne über das Gebiet fliegen. Pater Jan spricht mit Bewunderung über das ukrainische Volk. Er sagte uns, dass das, was er am meisten von ihm gelernt habe, der Glaube sei. Schon früher habe es gute Beziehungen der katholischen Gemeinden zu den Gläubigen und Popen der orthodoxen Kirche gegeben, zu der sich die Mehrheit der Bevölkerung bekennt. Doch jetzt, während der russischen Invasion, hätten sich diese Beziehungen noch intensiviert.

In Polen sahen wir überall, dass unsere Kirchengemeinden ukrainische Flüchtlinge, insbesondere Frauen und Kinder, aufnahmen. Die Männer sind im Land geblieben, weil sie zum Verteidigungsdienst eingezogen wurden. Tatsächlich beherbergt das Haus in Breslau, das viele Jahre lang als Ausbildungshaus diente, heute etwa dreißig Personen aus der Ukraine. Die Reaktion der Kirche in Polen und unserer Brüder auf die Notlage der Geflüchteten aus der Ukraine war schnell und großzügig. Wenn diese Situation länger anhält, müssen wir weitere Unterstützungsmaßnahmen überlegen. Das betrifft vor allem die Bereiche Arbeit, Bildung und Integration.

In Europa wird es bald vier ehemalige Provinzen geben, die ihre Strukturen vereinfacht und ihre pastoralen Dienste reduziert haben, weil es personell nicht mehr anders ging. Haben Sie schon mit den betroffenen Brüdern erste Ideen entwickelt, wie es weitergehen wird?


In der Tat begleiten wir als Generalleitung vor allem Provinzen, die früher sehr zahlreich und missionarisch stark vertreten waren und deren Mitgliederzahl nun geschrumpft ist: Niederlande und Flandern, die bereits Delegaturen sind, sowie Irland/England und Deutschland, die bald ebenfalls Delegaturen sein werden. Das sind ordensrechtliche Konstruktionen, die wichtige Entscheidungsbefugnisse vor Ort belassen, aber die Verwaltung insgesamt erleichtern. Jede der ehemals selbstständigen Provinzen ist anders. In den Niederlanden, wo heute noch vier Mitbrüder leben, sehen diese ihre Aufgabe darin, bis zum Ende als Ordensleute von den »Heiligsten Herzen« zu leben. Sie möchten durch ihr Gebet und ihre finanzielle Solidarität die Bedürfnisse der Mission unterstützen – besonders für die Gemeinschaften in Afrika und Indonesien. Um dies realisieren zu können, haben sie beschlossen, mit Brüdern aus sechs anderen Ordensgemeinschaften zusammenzuleben, mit denen sie ähnliche Vorstellungen vom geistlichen und religiösen Leben teilen. Zudem haben sie vereinbart, sich von vertrauenswürdigen Laien unterstützen zu lassen, die ihnen bei der täglichen Pflege und Verwaltung helfen.

Die Schlüsselfrage ist die Frage nach dem spezifischen Auftrag der Ordensgemeinschaft SSCC und mit wem er weitergeführt werden soll und kann. Denn wir leben die SSCC-Mission bis zum Ende. Es ist das, was wir am Tag unserer Ordensgelübde bekennen: »Ich bekenne mich als Ordensmann der Heiligsten Herzen, in deren Dienst ich leben und sterben will.«

Die Situation in Europa ist bezüglich der Berufungen zum Ordensleben sehr unterschiedlich. Doch überall gilt: Es sind deutlich weniger als früher. Wie schätzen Sie die künftige Situation für das Ordensleben in Europa ein?


Es stimmt, dass es in Europa generell weniger Berufungen gibt als in der Vergangenheit. Die Frage nach der Zukunft hat zwei sich überschneidende Ebenen. Eine Ebene ist die der Bereitschaft, Gott aufzunehmen, der unsere Zukunft ist und der lebt, um uns zu begegnen. Schon durch die Taufe und dann durch das Glaubensbekenntnis »ist unser Leben mit Christus verborgen in Gott«, so der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde in Kolossai im Abschnitt 3. Die andere Ebene betrifft unsere Lebensweise und wie sie von anderen wahrgenommen wird. Es ist offensichtlich, dass das Ordensleben für viele junge Menschen nicht mehr attraktiv ist. Auf dieser Ebene stellt sich die Frage: Wie leben wir unser Ordensleben, wie heißen wir Gott willkommen, der uns in den Ereignissen unserer Welt, in unseren leidenden Brüdern und Schwestern begegnet, und wie machen wir dieses Ordensleben für andere verstehbar und erstrebenswert – als frohe Botschaft, als etwas, das für mich wichtig sein und dem ich mein ganzes Leben weihen kann? Diese Fragen müssen wir dort beantworten, wo es Berufungen gibt – wie in Indonesien oder den USA –, aber auch dort, wo es wenige oder keine Berufungen gibt. Und wir sollten die Antworten auf diese Fragen nicht nur bei uns selbst suchen, sondern auch bei den Laien, mit denen wir zusammenarbeiten, vor allem bei jungen Menschen.

Welche neuen Wege kann das Projekt »Internationale Kommunität Berlin« für die ganze Ordensgemeinschaft eröffnen?


Die vorherige Frage nach der Zukunft der Ordensgemeinschaft in Europa verbinde ich mit der Berliner Kommunität. Es ist klar, dass die Zukunft unserer Kongregation in Europa von einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den Mitbrüdern abhängt. Wir sind Mitglieder einer internationalen Ordensfamilie. Sicherlich legen wir unsere Gelübde in einer Ordens­provinz ab, aber unsere Mission wird uns zunehmend dazu führen, dass wir für Dienste außerhalb unserer Herkunftsorte zur Verfügung stehen müssen.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet sehen wir den zunehmenden Strom politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Migrant:innen. Sie müssen ihre Herkunftsländer verlassen auf der Suche nach Lebens- und Arbeitsbedingungen, die ihnen und ihren Familien ein Leben ermöglichen, und in andere Länder auswandern. So schließt sich unsere internationale Gemeinschaft in Berlin, bestehend aus Mitbrüdern aus Indonesien, der Demokratischen Republik Kongo und Deutschland, dieser großen Bewegung an und versucht, ihren Auftrag zu definieren: Wie kann unsere in Gemeinschaft gelebte SSCC-Spiritualität ein Laboratorium und eine gute Nachricht für eine multikulturelle und interreligiöse Gesellschaft und Kirche sein? Die gleichen Fragen können mit unterschiedlicher Dringlichkeit in Paris, Dublin, Madrid oder Santiago gestellt werden, wobei die Tonalität von Land zu Land unterschiedlich ist. 

Interview und Bearbeitung: Kerstin und Thomas Meinhardt