Die Würde des Menschen ist unantastbar

»Haltung zeigen, wenn die Würde eines Menschen verletzt wird! Respekt und Achtung voreinander sollen unser Zusammenleben prägen.« So fasste die Tagesschau am 23. Juni die Botschaft des Abschlussgottesdienstes des Evangelischen Kirchentages in Dortmund zusammen.

Auch nach Abschluss der Feiern zum 70. Jahrestag unseres Grundgesetzes steht dessen Artikel 1 im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte – so wie schon sehr lange nicht mehr. Ja, es macht den Eindruck, als würde die Aussage, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gerade wieder neu entdeckt. Es scheint, viele Menschen spüren, dass dieser Satz das Fundament der Bundesrepublik Deutschland ist. Nicht umsonst zählt er zu den unveränderlichen Bestandteilen unserer Verfassung. Zugleich beschreibt er aber auch eine Aufgabe, die niemals abgeschlossen ist und für deren immer wieder neue Verankerung das Engagement der Bürgerinnen und Bürger unabdingbar ist, soll er nicht zur bloßen Floskel verkommen.

Präzise, schlicht und eine große Verpflichtung

Das Grundgesetz geht davon aus, dass die Würde jedem Menschen gleichermaßen und immer im vollen Umfang zukommt. Sie kann zwar verletzt, aber keinem Individuum weggenommen werden. Die Würde des Menschen ist somit angeboren und unveräußerlich. Diesem Statut wohnt eine unbeschreibliche Ermächtigung und das Prinzip der Gleichheit aller Menschen – in ihrer Würde – inne. In ihrer prägnanten, schlichten Art birgt diese Aussage durchaus Sprengkraft. Dies ist etwas, das auf den ersten Blick leicht übersehen wird, denn es widerspricht durchaus unserer Alltagserfahrung. Wie ist es, wenn alte oder behinderte Menschen schlecht behandelt werden, wird ihnen dann nicht die Würde genommen? Nein, denn ihre Würde kann ihnen nicht genommen werden! Richtig ist vielmehr, dass mit ihnen nicht so umgegangen wird, wie es ihrer Würde entsprechen würde. Das, was ihnen geschieht, ist vielleicht unmenschlich und würdelos. Letzthin ist es eine Aussage über das Handeln des Gegenübers, das nicht berücksichtigt, dass aus der angeborenen Würde auch der Anspruch auf eine würdevolle Behandlung erwächst. Und wie verhält es sich mit einem Menschen, der sich selbst würdelos verhalten hat, einem, der – um einen Extremfall zu bemühen – vielleicht sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat? Hat er nicht alles getan, um seine Würde zu verlieren? Auch hier gilt: Er oder sie hat sich nicht so verhalten, wie es seiner oder ihrer angeborenen Würde entspräche, aber es bleibt dabei: »Die Würde ist unantastbar!«

Der Mensch ist das Maß – nicht der Profit

Allzu leicht wird übersehen, dass es im Grundgesetz nicht heißt, die Würde von Deutschen, von Gesunden, von sich den Normen gemäß Verhaltenden oder von Jungen … sei unantastbar, nein, es heißt »die Würde des Menschen« und damit jedes Menschen! Und diese Grundlage unserer Gesellschaft wird ständig verletzt. Zumeist sind es Schwächere – Arme und Obdachlose, Menschen mit Behinderung, alte und pflegebedürftige Menschen …– deren Menschenwürde verletzt wird. Aber es sind auch Menschen mit anderer sexueller Orientierung, anderen religiösen Bekenntnissen, Normen und Werten, die als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt werden. Während diese »alltäglichen« Ereignisse selten öffentlich thematisiert werden, so war das Erschrecken über die Verrohung in Teilen der Gesellschaft groß, als in den Nachrichtensendungen gezeigt wurde, wie »ganz normale« Menschen mittleren Alters während einer AfD-Veranstaltung auf die rhetorische Frage eines Redners, was mit Menschen, die übers Mittelmeer flüchteten, geschehen solle, brüllten: »Absaufen, absaufen lassen!« Hier wurde auf einmal offensichtlich: Menschenrechte und Menschenwürde für alle sind auch in Deutschland keineswegs unumstritten. Auf der anderen Seite wäre es überraschend, wenn Deutschland unberührt geblieben wäre von dem scheinbar weltweiten Trend, die Charta der Menschenrechte sturmreif zu schießen. Nicht nur in den USA, Russland, China, Indien, Brasilien und auf den Philippinen, auch in vielen anderen Ländern versuchen Autokraten durch gesellschaftliche Spaltungen und populistische Verunglimpfung von Minderheiten die allgemeine Geltung der Menschenrechte Stück für Stück zu untergraben, um ihre Macht zu sichern.

Insbesondere Papst Franziskus wies in den letzten Jahren immer wieder darauf hin, wodurch ein Leben in Würde für alle am stärksten bedroht wird: durch das weltweite kapitalistische Wirtschaftssystem. In dessen Grundstruktur ist der Vorrang von privatem Einzelinteresse vor dem Allgemeinwohl quasi als Geburtsmakel angelegt. Es gilt der unbedingte Vorrang des Kapitals vor der menschlichen Arbeit und die Reduzierung der menschlichen Arbeit auf einen reinen Produktionsfaktor, der ausschließlich nach Kostenkriterien eingesetzt wird. Menschenrechte und menschliche Entwicklung für alle sind nicht das Ziel dieses Wirtschaftssystems. Den wirtschaftlichen Eliten gelten Menschenrechte eher als Hemmschuh für die Realisierung der Profitinteressen. Der Gutmütige ist der Dumme, und erfolgreich ist, wer sich auf Kosten anderer durchsetzt, wer von seinen Ellenbogen Gebrauch macht … zumindest so lange, wie der ökonomische Erfolg des Einzelnen das alles beherrschende Ziel ist.

Das Evangelium: eine wunderbare Richtschnur

Vor dem Hintergrund dieses Panoramas ist es fast schon erstaunlich – und es stimmt hoffnungsfroh, dass sich in wachsendem Maße Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und Altersgruppen für die Achtung der Würde aller Menschen tatkräftig und öffentlich engagieren. Gerade unter jungen Menschen entsteht verstärkt eine Orientierung am Gemeinwohl. Sichtbar wird dies nicht nur auf Kirchen- und Katholikentagen, sondern gerade auch in dem breiten Engagement für die gute Aufnahme und Integration von Geflüchteten, das Eintreten für Seenotrettung im Mittelmeer und für die Erhaltung der Schöpfung – und damit einer lebenswerten Zukunft für alle! Solche Haltungen aktiv zu fördern, nach ihnen zu leben und sich unmissverständlich auf die Seite derjenigen zu stellen, deren Menschenrechte infrage gestellt werden, sollte für uns Christen und unsere Kirchen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, bietet das Evangelium Jesu Christi hierfür doch eine wunderbare Richtschnur.

Haltung zu zeigen und Menschen dabei zu begleiten, ethische Kriterien für ihr Leben zu entwickeln, und Gewissensbildung zu fördern, sind zentrale Aufgaben für die Kirchen. Hier wird jede und jeder gebraucht, wenn es darum geht, einen Beitrag für »ein gutes Leben in Fülle, und zwar für alle« zu leisten. <

Kerstin und Thomas Meinhardt
Die Diplom-Soziologen leben in Idstein und sind Redakteure des Apostels