Wir brauchen Garagen …

… damit Kirche am Ort lebt

Kirche entwickelt sich. Viele, oft eher kleine Pfarreien werden zu großen Pfarreien vereint. Was bedeutet ­dies für die Seelsorge? Um es gleich vorwegzunehmen: So vielfältig die Menschen sind, so ist auch ihr Umgang mit neuen Situationen. Es gibt Katholikinnen und Katholiken, die gerne eine Stunde Fahrzeit in öffentlichen Verkehrsmitteln in Kauf nehmen, um am Sonntag einen für sie ansprechenden Gottesdienst mitzufeiern. Es gibt jene, denen es wichtig ist, Gleichaltrige zu treffen, um sich mit ihnen gemeinsam über das Wort Gottes auszutauschen. Und es gibt auch jene, die am Sonntag vor allem Menschen an ihrem Wohnort treffen möchten, um mit ihnen an einer Wort-Gottes- oder Eucharistiefeier teilzunehmen. Aufgrund meiner Erfahrungen als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge im Bistum Münster und auch als Generalvikar im Erzbistum Berlin bin ich überzeugt, dass wir auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen müssen, soweit das in unseren Kräften steht.

In diesem Beitrag möchte ich gerne den Blick öffnen für diejenigen, die sich am Sonntag in dem Ort, in dem sie wohnen, treffen wollen, um das Wort Gottes zu hören und gestärkt durch dieses Wort, gegebenenfalls auch durch den Empfang der Kommunion und auf jeden Fall durch die Gemeinschaft vor Ort, in den Alltag zurückzugehen.
Als Papst Franziskus noch Erzbischof des Erzbistums Buenos Aires war, forderte er seine Priester in einer Konferenz auf, Garagen zu mieten. Sie sollten geeignete Laien suchen und diese zu Leiter:innen von Wort-Gottes-Feiern ausbilden. Diese sollten sich dann am Sonntag in den Garagen mit den Menschen im Wohnviertel zu einer Wort-Gottes-Feier versammeln. Wo also sonst Autos abgestellt werden, so die Vorstellung des damaligen Erzbischofs, sollten sich Menschen treffen, um die Gegenwart Gottes zu feiern. Sie sollten sich vom Wort Gottes ansprechen lassen. Als Gemeinde vor Ort sollten sie sich nach der Feier wieder auf den Weg machen, um in ihrem Alltag aus dem Glauben zu leben.

Es ging dem heutigen Papst darum, Menschen in der Nähe der eigenen Wohnung und ohne großen Aufwand mit dem Wort Gottes in Berührung zu bringen, ihnen die Möglichkeit geben, am Sonntag ihren Alltag zu unterbrechen, anzuhalten, um aufzutanken. Die Garage als Tankstelle, um über all den Worten, die Menschen im Alltag erreichen, Gott zu Wort kommen zu lassen. Nun kann man Papst Franziskus nicht vorwerfen, dass er nur lokal und zu ­wenig komplex denkt oder zu selten den weltweiten Blick einnimmt. In seinem aktuellen Schreiben »Laudate Deum« (2023), in dem er auffallend viele Einblicke in seine persönliche Gemütslage gibt, macht er aber deutlich, wie wichtig ihm das Interesse am konkreten Menschen und nicht nur an der Menschheit im Allgemeinen ist. Nächstenliebe und Fernstenliebe haben ihren je eigenen Wert. Er klagt über jene wirtschaftlichen Kräfte, die die Menschen vor Ort aufsuchen und ihnen ein besseres Leben versprechen. Dabei hätten sie nur Interesse am materiellen Gewinn, nicht aber an den Menschen vor Ort und an deren Zukunft (Laudate Deum, Nr. 65).

Diese Aussage bestätigen zum Beispiel einige große Ölkonzerne dort, wo sie Wälder abgeholzt und Menschen umgesiedelt haben. Sie haben diesen Menschen zwar vielleicht eine baulich betrachtet bessere Wohnung angeboten. Doch sie haben gleichzeitig den Sozialraum und die Beziehungen der Menschen sowie deren Einklang mit der Schöpfung zerstört. In seiner Enzyklika »Fratelli tutti« (2015) erinnert Papst Franziskus daran, wie wichtig es Jesus selbst gewesen sei, persönlich und nahbar durch die Orte und Landschaften zu gehen und die Natur als gläubiger Mensch zu betrachten. Jesus »konnte andere auffordern, auf die Schönheit zu achten, die es in der Welt gibt, denn er selbst war in ständigem Kontakt mit der Natur und widmete ihr seine von Liebe und Staunen erfüllte Aufmerksamkeit. Wenn er jeden Winkel seines Landes durchstreifte, verweilte er dabei, die von seinem Vater ausgesäte Schönheit zu betrachten, und lud seine Jünger ein, in den Dingen eine göttliche Botschaft zu erkennen« (Fratelli tutti, Nr. 38). Der Ort, in dem wir leben, ist der Ort, an dem wir in unserem Innern angerührt werden von der Schönheit der Natur und ebenso von der Not eines konkreten Menschen.

In seinen Botschaften vertraut Papst Franziskus bis heute darauf, dass Jesus Christus – seine Worte und sein Leben – Menschen konkret hilft. Wer schon im Alltag aufgrund seiner Lebens- und Arbeitssituation weite Wege auf sich nimmt, möchte dies vielleicht nicht auch am Sonntag tun. Zudem kommen heutzutage an ihrem Arbeitsplatz viele Menschen mit Kolleginnen und Kollegen zusammen, die an verschiedenen Orten wohnen. Schon deshalb ist ihre Lebenssituation unterschiedlich, und sie haben außerhalb ihrer Arbeit kaum eine gemeinsame Geschichte und Geschichten. Die Garage im Wohnviertel gibt Menschen die Gelegenheit, sich am Sonntag mit den Menschen zu treffen, die in der Nähe wohnen. Mit Menschen, die aufgrund des Wohnortes ähnliche Themen haben: ähnliche Treffpunkte, an denen sie ihre Freizeit verbringen, sich entspannen, kulturell auftanken und ihre Lebensmittel einkaufen, sich mit ähnlichen lokalpolitischen Themen auseinandersetzen und vor Ort dieselben Unglücke erleben.

Der Weg, der gangbar und zu gehen ist, ist nicht der theoretische Weg. Früher hätte man gesagt: nicht der Weg, den man mit dem Finger auf der Landkarte geht. Es ist vielmehr der konkrete Weg, auf dem Menschen anderen Menschen begegnen, die Steine und den Sand unter den Füßen spüren, unter der Sonne und durch den Regen gehen. Alle Wege – die persönlichen und die institutionellen, auch die synodalen Wege – leben davon, dass sie gegangen werden. Den Weg zu planen, mag sinnvoll sein. Aber man muss ihn gehen, damit er seinen Sinn erfüllt. Ansonsten bleiben der beste Plan folgenlos und der schönste Weg sinnlos. Vielleicht könnte die Garage vor Ort helfen, sich ermutigen zu lassen anzuhalten, ohne zu erstarren; innezuhalten, um anschließend wieder gestärkt durch menschliche Begegnung und orientiert durch das göttliche Wort nach außen zu gehen.

von Manfred Kollig SSCC