„Die Hoffnung des Christen stirbt nie.“

Vortrag von Pater Manfred Kollig SSCC anlässlich der Feier des 100-jährigen Bestehens der Deutschen Provinz im Jahr 2020

 

I. Einleitung: Vier bis fünf Leitsätze

 

In seiner Botschaft an den sogenannten G-20 Gipfel, der 2017 in Hamburg stattfand, erinnerte Papst Franziskus die Regierenden an die Grundprinzipien seines Dienstes, die er in der Enzyklika „Evangelii gaudium“, von ihm selbst als „Programmschrift“ bezeichnet, veröffentlicht habe. Es sind Handlungsprinzipien für eine geschwisterliche, gerechte und friedliche Gesellschaft. Sie lauten:

  1. Die Zeit ist mehr wert als der Raum.

  2. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.

  3. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet.

  4. Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt.

Nun sind wir hier nicht als „G-20-Gipfel“ versammelt. Und doch gelten diese Handlungsprinzipien für uns alle. Deshalb habe ich sie als roten Faden durch diesen Vortrag gewählt. Durch die Brille dieser Prinzipien möchte ich mit Ihnen und Euch auf die 100 Jahre der Deutschen Provinz der Ordensgemeinschaft von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariä und der Ewigen Anbetung des Allerheiligsten Altarsakraments“ – abgekürzt SSCC – schauen. Dabei geht es nicht nur darum, auf die Vergangenheit und Gegenwart unserer Gemeinschaft SSCC zu schauen, auf die Ordensleute und die Laien des Weltlichen Zweigs, auf Unterstützerinnen und Unterstützer, Freundinnen und Freunde unserer Gemeinschaft, von denen – der Covid-19-Pandemie geschuldet – heute nur einige wenige anwesend sein können. Mit den folgenden Gedanken möchte ich uns alle auch einladen, in die Zukunft zu schauen; vornehmlich auf die Zukunft der Deutschen Provinz SSCC, aber auch auf die Zukunft der gesamten Gemeinschaft, verbunden mit einem Blick auf die Zukunft unserer Kirche. Und ich stelle die Frage, ob es nicht neben den 4 Grundsätzen einen ebenso wesentlichen 5. Leitsatz geben müsste.

 

II. Zunächst möchte ich allgemein auf die vier Grundsätze eingehen, bevor ich sie dann mit den 100 Jahren Provinzgeschichte in Verbindung bringe.

 

„Die Zeit ist mehr wert als der Raum.“ Wer von uns macht nicht die Erfahrung, dass die Zeit vergeht. Sie bewegt sich unaufhaltsam fort, während der Raum bleibt. Diese Beweglichkeit und Vergänglichkeit haben eine stärkere Macht als der Raum, als die Städte und Dörfer und die eigenen Häuser, die wir bewahren. Gleichzeitig stimmt auch: Räume kann man uns nehmen; die Zeit, die wir gelebt und erlebt haben, nicht.

Damit eng verbunden ist das Handlungsprinzip: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“ Wir kennen das: Wir haben für uns persönlich Wünsche, Ideen und Pläne. Sie können nicht erfüllt werden, weil es beispielsweise an Geld oder an Gesundheit mangelt. Und auch dann, wenn eine Idee nur am Wetter scheitert, die Bergwanderung nur an der ausgesprochenen Lawinengefahr, bewahrheitet sich das Prinzip: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“

Die These, das Ganze sei dem Teil übergeordnet, spüren wir in diesem Jahr so stark, dass ihre Richtigkeit kaum noch in Zweifel gezogen werden kann. Mögen wir auch noch so gesund, intelligent, kraftvoll, motiviert und erfolgreich sein, eine weltweite Pandemie mindert die Wirksamkeit all dieser Stärken und Qualitäten. Wir sind, ganz gleich, wie wirkmächtig wir als Teile sind, immer in unseren Möglichkeiten dem Ganzen ausgesetzt.

Der 4. Leitsatz lautet: „Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt.“ Gerade in Krisenzeiten spüren wir, wie wichtig es ist, dass über allen Konflikten und Auseinandersetzungen, unterschiedlichen Meinungen und Positionen, den verschiedenen Interessen und Wünschen der Grundsatz steht: Wir bleiben zusammen. Wir stehen es miteinander durch. Wir tragen mit unseren je eigenen Möglichkeiten dazu bei, Krisen zu bewältigen und Probleme zu lösen. In der Zeit der Covid-19-Pandemie erleben wir, wie wichtig die Solidarität ist. Das Nichtwissen gemeinsam auszuhalten, die Unsicherheit gemeinsam zu ertragen und miteinander sich und andere zu schützen ist das Gebot der Stunde. Besserwisserei und das Streuen von Misstrauen hingegen verstärken die Krise, schaffen neue Konflikte und spalten die Gesellschaft.
 

III.      Die vier Leitsätze im Zusammenhang mit dem 100-jährigen Jubiläum der Deutschen Provinz SSCC

 

Die hundertjährige Geschichte der Deutschen Provinz ist insofern eine „ganz normale Geschichte“, als es in ihr das gibt, was auch die Geschichte anderer Gruppen und Gemeinschaften, die Geschichte der Kirche und die Geschichte einer Gesellschaft prägt: Es gibt Begeisterung und Verwirrung. Engagement und Überforderung, Umkehr und Anbetung, Hoffnung und Enttäuschung, Ratlosigkeit und Solidarität, Konflikte und Gottvertrauen, Mut und Angst und vieles mehr. Wenn ich jetzt die vier Leitsätze mit der 100-jährigen Geschichte der Deutschen Provinz SSCC in Verbindung bringe, kann ich natürlich immer nur einige wenige Beispiele aus der reichen Provinzgeschichte nennen.

Die Zeit ist mehr wert als der Raum. Inwiefern trifft dieser Grundsatz auf die Deutsche Provinz SSCC zu? Bernhard Hengst aus Westfalen und Joseph Leo Hörning aus Bayern wollten bei den Barmherzigen Brüdern in Trier eintreten. Sie trafen einen Missionar unserer Ordensgemeinschaft und traten bei uns ein. Der eine nahm den Namen Bonifatius an und wurde in den Südpazifik auf die Marquesas-Inseln geschickt. Der andere wurde zum Bruder Dominikus, lebte und wirkte in Frankreich, Spanien und Belgien und kam nach Ausbruch des 1. Weltkriegs nach Simpelveld in den Niederlanden. Hier war die Wiege der Deutschen Provinz. 222 deutsche Mitbrüder gab es, bevor die Deutsche Provinz gegründet wurde. Und auch das Kloster in Simpelveld existierte vor der Gründung der Provinz. Die meisten Mitbrüder von uns wurden dort ausgebildet. Das Kloster in Simpelveld haben wir verlassen. Ebenso andere Orte wie Braunshausen und Eppendorf, Weibern und Pirmasens, Frankfurt und Waldernbach, Arnstein und Lahnstein und andere mehr. Viele der Mitbrüder haben an unterschiedlichen Orten in Deutschland und in anderen Ländern gelebt. Auch unsere Schwestern hatten eine Kommunität in Essen. Und Sr. Elisabeth Drolshagen, die jüngste deutsche Schwester SSCC, hat schon an verschiedenen Orten gewirkt: in Portugal, Spanien, Mozambik und jetzt wieder in Spanien. Was sagt das aus über Ort und Zeit? Ganz gleich, ob die Orte vergehen oder wir die Orte wechseln: Es bleibt uns die Zeit. Und die Zeit zu nutzen, um die Liebe Gottes zu betrachten, zu leben und zu verkünden, bleibt der Auftrag. Wenn auch die Räume sich ändern, die Zeit bleibt – vom ersten bis zum letzten Atemzug. Sie bleibt als Möglichkeit und Chance, als Kairos – als der glückliche Moment, um das Richtige zu tun. Unser Mitbruder, P. Norbert Hoffmann, hat 72 der 100 Jahre erlebt. In und durch Menschen wie ihm, der in Simpelveld, Münster und Werne sein Leben als Ordensmann konsequent gelebt hat und lebt, zeigt sich: Die Zeit ist wichtiger als der Ort. Beten und anbeten, studieren und lehren, Unkraut entfernen und Klavier spielen: Dazu ist der Ort weniger wichtig als die Zeit, die man sich dafür an jedem Ort nehmen muss. Standorte und Standpunkte sind weniger wichtig als Pilgerwege und Umzüge. Menschliches Leben braucht Bewegung und Wandlung und dazu eher die Zeit als den Raum, um aus dem Geist Jesu Christi als begeisterte Menschen zu leben. Von vielen Orten sind wir weggegangen; Häuser haben wir verlassen. Die 100 Jahre Zeit, 100 Jahre fruchtbares Wirken, 100 Jahre Gelingen und Scheitern aber kann uns niemand nehmen. Der Raum ist begrenzt. In ihm sitzen zu bleiben, mag bequem sein. Die Zeit jedoch ist offen für Weite und „Entgrenzung“, weil sie wie die Luft, die wir atmen, nicht örtlich gebunden ist und sich bewegt und uns in ihr bewegen lässt.

Aber nicht nur die Standorte haben wir gewechselt. Auch Standpunkte verändern sich. Unsere Einstellungen haben sich verändert: Früher konnten sich viele von uns nicht vorstellen, dass die Arnsteiner Patres keine eigenen Werke tragen. Später haben wir uns in Dienste der Bistümer und des Staates gestellt: in Pfarreien, Gefängnis-, Polizei- und Militärseelsorge, in Krankenhäusern und Altenheimen, in Schulen und Hochschulen. Auch haben sich unsere Einstellungen gegenüber anderen Provinzen SSCC verändert, ebenso Schwerpunkte in unserem Gebetsleben, theologische Inhalte und vielleicht auch die Beziehung zu anderen Menschen und zu uns selbst. Dass die Zeit mehr wert ist als der Raum zeigt sich auch in dieser Veränderung unserer Standpunkte. Auf Zukunft hin erinnert uns dieser Leitsatz daran: Mag unser Raum auch enger werden; am Ende vielleicht sogar auf ein Zimmer beschränkt bleiben, so hat unser Tag auch weiterhin 24 Stunden, die wir nutzen können, um in der konkreten Situation auf engem Raum die Liebe Christi zu betrachten, zu verkünden und zu leben und uns von ihr bewegen und „drängen zu lassen“.

Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee. In Belgien sollten die deutschen Mitbrüder gemeinsam mit den niederländischen und belgischen Mitbrüdern ausgebildet werden. Das war eine gute Idee. Sie scheiterte aber am Beginn des 1. Weltkriegs. Die Wirklichkeit ist stärker als die Idee. Die Wirklichkeit des 1. Weltkriegs war so stark, dass die deutschen Mitbrüder 2014 den Ausbildungsort Kortrijk verlassen mussten. Ebenso scheiterte an der Wirklichkeit dieses Krieges der Beginn der Tätigkeit deutscher Mitbrüder und Schwestern SSCC auf Papua Neuguinea. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee. In der 100-jährigen Geschichte der Deutschen Provinz gab es immer wieder Aufbrüche:

Die Übernahme des Klosters Arnstein, der Beginn der Diasporaseelsorge in Norwegen, die Gründungen von Schulen in Waldernbach, Lahnstein und Werne, die Übernahme von missionarischen Diensten in Argentinien und Chile, die Übernahme von Pfarreien in Pirmasens, die Gründung des Ausbildungshauses in Münster, der Jugendbegegnungsstätte in Arnstein, der Kommunitäten für die Armen auf der Koblenzer Löhrstraße und in der Frankfurter Ahornstraße, der Zusammenschluss mit den Mitbrüdern in Südbelgien, der Beginn der pastoralen Arbeit in der Koblenzer Citykirche, der Wechsel des Provinzialats von Aachen nach Lahnstein und von Lahnstein nach Werne und in diesem Jahr die Gründung der internationalen Kommunität in Berlin.

Überall hat uns die Wirklichkeit eingeholt: Neue Eintritte in die Gemeinschaft blieben in den letzten 20 Jahren aus. Zuvor gab es Eintritte von jungen Männern, die unsere Gemeinschaft verlassen haben. Viele von ihnen arbeiten hauptamtlich in unserer Kirche. Zur Wirklichkeit gehört auch, dass Mitbrüder früher starben als erwartet.

Auch gehört zur Wirklichkeit, dass Mitbrüder nach mehr oder weniger  vielen Jahren ihres Ordenslebens austraten. Dies ist nicht nur ein Phänomen der Deutschen Provinz SSCC, sondern vieler unserer Provinzen. Dass selbst der Vorgänger unseres Generalsuperiors unsere Gemeinschaft verlassen hat und seinen priesterlichen Dienst nicht mehr ausübt, zeigt uns, wie stark die Wirklichkeit wiegt und wirkt. Wir haben uns als Deutsche Provinz immer wieder den Wirklichkeiten gestellt. Diese Wirklichkeiten ergaben und ergeben sich durch Menschen, durch Intelligenz und Glauben, durch Gesundheit und Krankheit, durch Alter und Erfahrung, durch deren Erfolg und Scheitern, durch deren positiven Erfahrungen miteinander und durch deren Verletzungen.

Die Wirklichkeiten wiegen aber auch mehr, wo sie sich „nur“ aus dem Wetter ergeben oder aus einem Unglück. So hatten beispielsweise Hochwasser in Lahnstein und Feuer in Waldernbach ihren Einfluss auf das Wirken in den beiden Schulen.

Zu dieser Wirklichkeit aber gehört auch, dass in ihr Gott unter allen Umständen gegenwärtig ist. „Alles Gute kommt von dir, du schenkst das Wollen und das Vollbringen“, heißt es in einem Gebet. Und in seinem Brief an die Gemeinde von Philippi schreibt der hl. Paulus im 2. Kapitel, Vers 13: „Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt zu seinem Wohlgefallen.“ Diese Wirklichkeit zu entdecken, ist gerade in unserer Zeit wichtig. Wie oft denken wir, dass es nur bergab geht mit unserer Kirche und unserer Gesellschaft. Einige stellen sogar die Frage, ob uns Gott verlassen habe. Wenn alles Gute von Ihm kommt und ohne Ihn nichts Gutes geschehen kann, dann entdecken wir Gott, wo das Gute geschieht. Wie viel Gutes geschieht auch heute durch Menschen, Katholiken und Christen anderer Konfessionen, Menschen mit anderer und ohne Religionszugehörigkeit. Wo wir das Gute sehen, erfahren wir Gott und Sein Wirken. Dort gibt er auf unser Zweifeln eine Antwort und bewahrt uns vor dem Verzweifeln.

Das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Die Gemeinschaft ist dem einzelnen Mitbruder übergeordnet, die Provinzgemeinschaft der Hausgemeinschaft, die internationale Familie SSCC der Provinz, die Kirche ist der Ordensgemeinschaft übergeordnet und die Welt der Kirche.  

Ich habe bereits über Aufbrüche der Deutschen Provinz innerhalb Deutschlands gesprochen. Aufbrüche gab es und gibt es aber auch auf der internationalen Ebene: durch die aktive Beteiligung von Mitbrüdern der Deutschen Provinz an der Zusammenarbeit in der Jugendpastoral zwischen den europäischen Provinzen in den 80er und 90er Jahren, durch Übernahme von Diensten in der Internationalen Gemeinschaft, sei es in Peru, auf den Philippinen oder in Rom.

Solange das Ganze immer dem Teil übergeordnet ist, wird der Teil nie nur um sich selbst kreisen und nur für sich selbst sorgen. Von den Anfängen der Geschichte unserer Ordensgemeinschaft an waren die Schwestern und Brüder SSCC international unterwegs, obwohl die Neigung, französisch zu sein, stark war. Von den Anfängen der Ordensgemeinschaft an haben wir uns im Dienst der Kirche gesehen, obwohl unsere personellen Möglichkeiten sehr begrenzt waren. Und von Anfang an haben wir uns als eine internationale Familie verstanden. Wer in den Gemeinschaften unserer Schwestern und Brüder in anderen Ländern zu Gast war oder Mitglieder des Weltlichen Zweigs in anderen Ländern besucht hat, durfte erfahren und erfährt auch heute noch, wie stark das Gefühl ist, zusammenzugehören und Teil einer großen Familie SSCC zu sein. Auch und besonders daran zeigt sich, dass das Ganze dem Teil übergeordnet ist.

100 Jahre Deutsche Provinz: Das Ganze zu sehen, bedeutet auch, sich vorzustellen, dass in diesen 100 Jahren deutsche Mitbrüder für 2-3 Millionen Menschen tätig waren: getauft und das Wort Gottes verkündet haben. Eine „Millionenstadt“, in der Menschen von deutschen Mitbrüdern begleitet und ausgebildet wurden, in der Menschen die Sakramente gespendet und auf ihrem letzten irdischen Weg begleitet wurden. Das Ganze, das bedeutet ebenfalls: 100 Jahre Geschichte, von der Weimarer Republik bis heute, während der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus, des II. Weltkriegs, in der Zeit der Annäherung in Europa, der Gründung der Europäischen Union, in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils, des Terrors der Roten Armee Fraktion (RAF), der wieder aufkeimenden rechtsradikalen Tendenzen und der Geschichte des geteilten Deutschlands und der Wiedervereinigung, von der ebenfalls viele Mitbrüder unserer Provinz betroffen waren und sind.

So sehr es stimmt, dass das Ganze dem Teil übergeordnet ist, so stimmt es auch, dass es kein Ganzes ohne Teile gibt: Die Geschichte setzt sich aus Augenblicken zusammen und das Wirken der Provinz aus dem Wirken jedes einzelnen Menschen in ihr: Jeder einzelne Mitbruder und jede einzelne Schwester SSCC, jedes Mitglied des Weltlichen Zweiges, jeder Freundin und jeder Freund der Gemeinschaft, jede Unterstützerin und jeder Unterstützer ist wichtig. Und deshalb geht unser Blick nicht nur zurück, sondern auch nach vorne. Es stellt sich auch heute die Frage: Was kann ich als einzelner Mensch beitragen, damit die Liebe Jesu Christi auch heute entdeckt und betrachtet, gelebt und verkündet wird. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet: Wenn ich als einzelne Person auf die 100 Jahre und das Ganze schaue, werde ich demütig. Wenn ich mich frage, was ich selbst beitragen kann, muss ich mutig sein. Demut und Mut sind Haltungen, zu denen uns der heutige Tag einlädt und auffordert.

Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt. Gerade die letzten Jahre der Geschichte der Katholischen Kirche in Deutschland belegen, dass dieser Leitsatz schwer zu leben ist. Sowohl der Gesprächsprozess in den Jahren 2011 – 2016 als auch der 2019 begonnene Synodale Weg zeigen, dass unterschiedliche Positionen bezüglich der Kirchenentwicklung die Kirche spalten oder zumindest die Qualität des Miteinanders gefährden können. Es scheint zunehmend schwer zu fallen, die Sache zu klären, ohne Personen zu verletzen.

Auch in der Geschichte der Deutschen Provinz kennen wir diese Wirklichkeit. Es wurde gestritten: Ist die Schule in Lahnstein besser oder schlechter als die in Werne? Greifen wir die Option für die Armen unseres Generalkapitels von 1987 auf oder nicht? Wer ist der richtige Provinzial? Welche Bedeutung hat die Anbetung in unserer Zeit? Wie spricht man heute über das Herz Jesu und spricht man vielleicht am besten garnicht über das Herz Mariä? Viele Themen haben in der 100jährigen Geschichte zu Konflikten geführt. Wir können heute dankbar sein, wo wir in den Konflikten und trotz der Konflikte in Beziehung geblieben sind. Im Provinzkapitel 2018 haben wir miteinander die Hoffnung stark gemacht, von der wir miteinander Zeugnis geben wollen. Die gemeinsame Hoffnung ist stärker als Krisen und Konflikte. Sie gibt in den Konflikten eine Perspektive und in den Krisen Mut. Auf diese Hoffnung werde ich gleich noch eingehen. Das Provinzkapitel 2021 wird sich neue die Frage nach der Wirklichkeit stellen, die sich selbstverständlich auch in den letzten drei Jahren verändert hat. Miteinander werden wir besprechen, wie wir uns das Leben der jüngsten Mitbrüder der Deutschen Provinz SSCC zukünftig vorstellen.

Zusammenbleiben trotz unterschiedlicher Auffassungen und Meinungen. Miteinander den Erfolg und den Misserfolg annehmen, die Stärken und die Schwächen. Sich miteinander freuen und miteinander leiden. Das geht nur, wo wir die Einheit weder zuerst noch zuletzt gründen auf selbst gewählte oder gestaltete Freundschaften. Nicht wir halten unsere Gemeinschaft oder unsere Kirche zusammen. Es ist Gott, der uns zusammenruft und uns zusammenhält. Seine Gegenwart muss letztlich so stark unsere Wirklichkeit prägen, dass vielfältige Positionen und Meinungen möglich sind und wir einander verbunden bleiben, weil Gott uns verbunden bleibt; ja, auch dann, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, unsere Möglichkeiten sich unterscheiden und unsere Geschichten sich nicht in allem ähnlich sind.

 

IV. Ausblick: Der 5. Leitsatz

 

Bleibt die Frage, die ich eingangs stellte, ob es nicht einen 5. Leitsatz geben muss, der sich aus unserem Glauben ergibt und der wesentlicher Bestandteil unseres christlichen Glaubens ist. Ich bin überzeugt, dass es ihn geben muss und dieser Satz uns ebenfalls als Ordensleute besonders einfordert: „Die Ewigkeit wiegt mehr als die Zeit.“

Es gibt heute Grund zum Danken und Grund zum Feiern. Wir haben die Zeit genutzt. Wir haben uns bewegt. Wir haben in unterschiedlichen Situationen und Zeiten der Kirchen- und der Weltgeschichte die Liebe Gottes betrachtet, gelebt und verkündet. Gleichzeitig gib es in unserer Geschichte auch Ereignisse und Vorgänge, die wir nicht verstehen. Wir verstehen sie nicht und wir können sie auch nicht deuten, als seien sie von Gott gewollt beziehungsweise gewirkt. Unser Provinzialsuperior P. Martin Königstein erinnert in seinem Interview, das er anlässlich unseres Jubiläums für die Internationale Gemeinschaft SSCC gegeben hat, an Maria. Sie bewahrte, was sie nicht verstand, in ihrem Herzen. Sie verdrängte es nicht, vergaß es nicht, sondern bewahrte das Unverständliche in ihrem Herzen: bei der Verkündigung und der außergewöhnlichen Geburt, auf der Flucht und während der Darstellung im Tempel, als Jesus auf der Wallfahrt verschwand, bei der Hochzeit zu Kana und als er am Kreuz starb. Pieta und Auferstehungshoffnung gehören zusammen. Zu den Leiden und den Leidenden dieser Zeit stehen, das Aussichtslose annehmen in der Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung war, ist und bleibt unser Auftrag. Am Ende dieses Interviews sagt P. Martin: „Lernen wir gemeinsam als Ordensleute und Laien SSCC, dass unsere Hoffnung vom Herrn kommt und sich aus Seiner Zusage nährt. Von dieser Hoffnung, die nicht das Ergebnis und die Projektion unserer eigenen Wünsche ist, wollen wir Zeugnis geben.“

Wenn wir auch auf eine mehr als 220 jährige Geschichte der Gemeinschaft SSCC zurückschauen und heute 100 Jahre dieser Geschichte als Deutsche Provinz feiern, so wiegt doch die Ewigkeit mehr als die Zeit. Der uns zeitliches Leben schenkt, verspricht uns auch ewiges Leben. Diese Hoffnung des Christen stirbt nie. Diese Hoffnung ist letztendlich gemeint, wenn Papst Franziskus sagt: „Die Atemluft eines Christen ist die Hoffnung“. Möge uns diese Atemluft nie ausgehen. Möge diese Atemluft unser persönliches Leben erfüllen, unser Leben als Gemeinschaft SSCC und unser Leben als Kirche in Deutschland, auf welchem Weg bzw. auf welchen Wegen auch immer.