Menschenwürde: Auch die Kirche hat lange dazu gebraucht!

Interview mit Pater Gabriel Simon SSCC

Die Aussage »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ist heute für die katholische Kirche selbstverständlich. Doch das war nicht immer so. Noch vor gut 50 Jahren wurde darüber heftig gestritten. Über die Hintergründe, die grundlegenden Veränderungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1961–65), aber auch über die bis heute vorhandenen »blinden Flecken« sprach unser Redakteur Heinz Josef Catrein SSCC mit seinem ehemaligen Philosophieprofessor Dr. Gabriel Simon SSCC in Münster. Pater Gabriel studierte während des Zweiten Vatikanums in Rom und hat die damaligen Debatten hautnah miterlebt. Erfahrungen, die sein Leben und seine Theologie maßgeblich geprägt haben.

Frage: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieser Satz klingt wie ein politisches Manifest. Kann man feststellen, wo diese Aussage ihre Wurzeln hat?

Die Aussage über die Würde des Menschen und deren Begründung hat ihre Wurzeln in der klassischen abendländischen Philosophie, besonders in der Tradition der griechischen und römischen Stoiker. Sie gehen davon aus, dass der Mensch eine Sonderstellung in der Welt einnimmt. Diese besteht in seiner Vernunftbegabung und seiner Freiheit. Diese Vernunft ist Teilhabe an der Vernunft, die vom göttlichen Geiste stammt und die allen Menschen gemeinsam ist, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion und Stand. Diese Teilhabe gibt ihm seine Würde, und sie bedeutet, dass jeder Mensch als Mensch zu achten ist.

Der Begriff der Menschenwürde wird zumeist mit dem Begriff der Person verbunden, der in der christlichen Spätantike geprägt und von daher in die ganze Tradition der abendländischen Philosophie übernommen wurde. Das heißt: Träger der Menschenwürde ist der Mensch als Person – als unverwechselbares Individuum, ausgestattet mit Vernunft, Freiheit und Gewissen, mit der Aufgabe, ein »Selbst« zu werden.

Dieser denkerische Ansatz entwickelte sich zunächst unabhängig vom Christentum. Doch zugleich ist er eng verbunden mit dem christlichen Verständnis vom Menschen. Denn diese Erkenntnisse der Philosophie wurden von der christlichen Theologie übernommen und durch Aussagen der göttlichen Offenbarung untermauert und ergänzt. Die erste theologische Begründung der Menschenwürde findet sich in der Aussage der Bibel, dass der Mensch »als Abbild Gottes« geschaffen ist. Diese Gott-ebenbildlichkeit gibt ihm seine besondere Würde, die durch die Erlösungstat Jesu Christi noch eine weitere Dimension erhält. In der Taufe werden wir »Kinder Gottes«. Unser menschliches Dasein wird erhöht, weil wir auf einzigartige Weise in Gemeinschaft mit Christus stehen und durch ihn Anteil am göttlichen Leben haben.

Es ist interessant zu sehen, wie »heidnisch-philosophisches Denken« und christliches Nachdenken über die Offenbarung der Heiligen Schrift zu dem gleichen Ergebnis führen: »Der Mensch hat eine einzigartige Würde.«

Frage: Welche Rolle spielte das Thema »Menschenwürde« auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil?

Papst Johannes XXIII. hat deutlich gesehen, dass die Kirche in der Gefahr war, sich zu isolieren. Das katholische Selbstbewusstsein war weithin von der Überzeugung geprägt, allein im Vollbesitz der Wahrheit zu sein und dass nur die Wahrheit das Recht zur freien Religionsausübung habe. Dies war keine gute Voraussetzung für einen offenen Dialog mit den Menschen des 20. Jahrhunderts und mit anderen Religionen und Konfessionen. Der Begriff der Menschenwürde, und der darin begründeten Menschenrechte, wurde zu einem allgemeinen Diskussionsthema, vorbereitet durch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), die Ideen der französischen Revolution (1789) und die UN-Charta über die Menschenrechte (1948).

In den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten und die Kommunisten hatte die Kirche selbst erfahren, wie schmerzlich es ist, wenn Menschenrechte nicht eingehalten werden. Wer aber Menschenrechte für sich einfordert, muss sie auch anderen zuerkennen, was jedoch besonders dort auf Widerspruch und Ablehnung stieß, wo die katholische Kirche Staatsreligion war. Ein wichtiger Beitrag und zugleich eine Herausforderung kam auch von den verschiedenen christlichen Kirchen, die die Wichtigkeit der Ökumene erkannten und miteinander ins Gespräch kommen wollten. Ein solches Unterfangen setzt aber voraus, dass man dem Partner auf Augenhöhe begegnet. Oder anders: Grundlage für den Dialog mit allen Menschen und Religionen ist die Anerkennung der Menschenwürde sowie der Religions- und Gewissensfreiheit.

Frage: Wie hat sich dieses veränderte Verständnis auf dem Konzil konkret ausgewirkt?

Das Thema der Menschenwürde ist der geistige Hintergrund vieler Konzilsdokumente. So spricht das erste Kapitel der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes« in mehreren Artikeln von der Würde der menschlichen Person, die alle Menschen verbindet und die Gleichheit aller betont. Dazu heißt es in Nr. 29: »Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden.«

Schwierig wurde es dann, als man die Konsequenzen daraus auf konkrete Fragen übertrug. Das zeigt sich besonders in der Erklärung über die Religionsfreiheit »Dignitatis humanae«, die auf dem Konzil von Anfang an heftig umstritten war und insgesamt sechs Textfassungen durchlaufen hat, bis sie als letztes Konzilsdokument approbiert wurde.

Das Grundargument der Erklärung ist die Würde der menschlichen Person, und die daraus folgenden Aussagen zur Religions- und Gewissensfreiheit sind beachtenswert und von großer Tragweite: »Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl vonseiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird (…), nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird.« (Art. 2).

Der Mensch »darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäß seinem Gewissen zu handeln, besonders im Bereich der Religion. Denn die (...) Ausübung der Religion besteht ihrem Wesen nach vor allem in inneren, willentlichen und freien Akten (…) Akte dieser Art können von einer rein menschlichen Gewalt weder befohlen noch verhindert werden.« (Art. 3).

Auch die Dokumente des Konzils über den Ökumenismus, über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen sowie über die Missionstätigkeit der Kirche sind von dem Gedanken getragen, dass die Anerkennung der Menschenwürde und der damit verbundenen Menschenrechte die Grundlage für jeden Dialog bildet.

Frage: Welche Auswirkungen hatte diese Neuorientierung für die Rolle der katholischen Kirche in der Welt und wo besteht in dieser Frage noch kirchlicher Handlungsbedarf?

Das Bekenntnis der Kirche zur Religions- und Gewissensfreiheit als universalem Menschenrecht, begründet in der Personenwürde und erkannt durch Vernunft und Offenbarung, bedeutet eine grundlegende Neuorientierung in der Geschichte der Kirche, einen wahren Umbruch und Aufbruch in die Moderne. Doch die innerkirchlichen Diskussionen unserer Zeit und die vielen Krisen und Spannungen in der Welt zeigen, dass die konkrete Umsetzung weiterhin in vielen Bereichen umstritten ist und eine große Herausforderung und Aufgabe bedeutet. Ich möchte besonders zwei Bereiche nennen:

Innerkirchlich: Die Anerkennung und Umsetzung dieser Grundsätze in der Kirche selbst, in den Leitungsstrukturen, im Verhältnis der Amtsträger zu den Gläubigen, in der Gleichberechtigung der Frauen ist noch keineswegs abgeschlossen. Ferner in größerer Respektierung der Gewissensentscheidung beim Sakramentenempfang wiederverheirateter Geschiedener, beim Kommunionempfang in konfessionsverbindenden Ehen, in Fragen der Sexualmoral, im Umgang mit Missbrauchsopfern … besteht noch viel Handlungsbedarf.

Eine zweite Ebene betrifft die Spannungen und Kriege auf Weltebene, die nicht selten religiöse Hintergründe haben. Hier könnte und müsste die Anerkennung der Religionsfreiheit ein wichtiger Weg zum Frieden und ein Dienst an der Versöhnung sein. Hierfür hat sich Papst Franziskus immer wieder eingesetzt, wie zuletzt bei seinen Besuchen in Arabien und Marokko. Einladung und Herausforderung an alle Religionen! Keine Kriege im Namen Gottes, der der Vater aller Menschen ist!<

Interview: Heinz Josef Catrein SSCC

Der Theologe ist Hausoberer in Werne und verantwortlicher Redakteur des Apostels